Duisburg. Annemarie Möller wird als einzige Duisburgerin als Gerechte unter den Völkern in Yad Vashem geehrt. Wie die Apothekerin zur Heldin wurde.
Sie ist wahrhaftig eine Heldin: Die Duisburgerin Annemarie Theodora Möller versteckte im Zweiten Weltkrieg eine Halbjüdin in ihrer Apotheke in Neuenkamp und wurde dafür posthum von der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als Gerechte unter den Völkern geehrt.
Leider ist ihr mutiger Einsatz in Duisburg kaum bekannt, deshalb suchen wir Menschen, die Möller kannten. Dank ihr und anderer Lebensretter konnte Hanna Jordan 93 Jahre alt werden.
Hanna Jordan und ihre Familie flüchteten vor den Nazis
Der Überlebenskampf der Jordans, die sich als Juden vor dem NS-Regime verstecken mussten, ist ausführlich festgehalten in dem Buch „Weltentwürfe“. Die Biografin Anne Linsel hat das Leben der bekannten Bühnenbildnerin Hanna Jordan, die Jahrzehnte am Theater in Wuppertal und bundesweit kreativ wirkte, wort- und bildmächtig festgehalten.
Die Biografin beschreibt die Ereignisse in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs so: Im September 1944 wurde Vater Franz Jordan von einem Stammtischbruder gewarnt. Der SS-Mann hatte mitbekommen, dass in Wuppertal nun alle Juden deportiert werden sollen, auch Halbjuden und Angehörige von Mischehen. Jordans Frau Henriette war Jüdin, seine Tochter Hanna Halbjüdin. Die drei müssen fliehen.
Gefährliche Reise nach Duisburg
Mutter Henriette kommt nach einem gefährlichen Fußmarsch bei der befreundeten Familie Fuchs in einer Villa mitten im Wald bei Bergisch Gladbach unter. Hanna, die sie dorthin begleitet hatte, kehrt nach Wuppertal zurück. Über vorab festgelegte geheime Kommunikationswege erfährt sie, dass der Vater schon geflüchtet ist. Zu Fuß, nur mit einer Handtasche, reist sie ihm wie abgesprochen mit der Straßenbahn und dem Zug nach Duisburg hinterher.
Spät abends trifft sie an einer Straßenecke unter einer Laterne „nach bangen Minuten“ ihren Vater, wie sie ihrer Biografin erzählte. Er hatte sich in Arbeiterkleidung mit einer Kappe auf dem Kopf getarnt. „Vier Tage können wir hier in dieser Apotheke bleiben, länger nicht“, wird er zitiert. Die Apotheke gehört Annemarie Möller und ihrer Freundin.
Widerstand gegen die Nazis: Möller verliert ihre Anstellung
Die Familien kennen sich aus dem Quäkerkreis in Wuppertal. Hier hat Annemarie Möller die Apotheke der Städtischen Krankenanstalten geleitet. Wegen ihres selbst als „passiv“ bezeichneten Widerstands gegen die Nazis - also „aus politischen Gründen“ - verlor sie 1937 ihre Stellung.
Drei weitere Jahre blieb sie als angestellte Apothekerin in der Stadt, bevor sie 1942 die Rhein-Ruhr-Apotheke in Duisburg pachtete und parallel im Krankenhaus der Stadt Duisburg als Aushilfe arbeitete. Handschriftlich hat sie diese Details im Fragebogen zu ihrer Entnazifizierungsurkunde festgehalten. Die Bögen enthalten auch Informationen über ihr Jahresgehalt (1933 waren es 6000 Mark, 1945 noch 2000 Mark) oder ihre Auslandsaufenthalte („Frankreich, 1934, zwei Tage, Ankauf verbotener Lektüre“). Annemarie Möller unterzeichnet das zwölfseitige Dokument am 10. Oktober 1946.
In sütterlin-artigen akkuraten Lettern notiert sie, dass sie am 9. April 1896 in Leipzig geboren wurde. In Dessau machte sie 1918 ihr Abitur, das Pharmazeutische Staatsexamen schloss sie 1923 in Berlin mit „sehr gut“ ab.
Im Fragebogen zur Entnazifizierungsurkunde beschreibt Möller sich selbst als blond und blauäugig, 1,75 m groß und zarte 125 Pfund schwer - der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen. Handschriftlich erklärt sie, dass sie Sozialdemokratin war und „fortlaufend“ Mitglied in einer verbotenen Oppositionsgruppe: den Freunden der Quäker, einem religiösen Bund, der den Jordans das Leben retten sollte.
Flucht kurz vor dem Bombenhagel der „Operation Hurricane“
Ende September 1944 flüchtet Hanna Jordan mit ihrem Vater von Duisburg aus zurück nach Wuppertal. Gerade rechtzeitig, bevor bei der „Operation Hurricane“ der Royal Air Force am 14. und 15. Oktober über 2500 Duisburger im Bombenhagel sterben und der Duisburger Norden in Flammen steht.
Unbekannt ist, wie und wo Annemarie Möller die Angriffe überstand und wie es ihr nach dem Krieg erging. Besser dokumentiert ist die Flucht von Hanna Jordan. Nach weiteren Wochen in einem winzigen Versteck bei Familie Lusebrink in Wuppertal flieht der Vater im Dezember 1944 schließlich in ein Kloster nach Süddeutschland und Hanna Jordan zu Familie Ebert, die an der Stadtgrenze zu Duisburg in Wittlaer wohnten. Für den Weg verkleidete sich die damals 23-Jährige als alte Frau mit Spitzenkleid, schwarzem Kapotthütchen und Netz vor dem Gesicht so gut, dass die Freunde sie kaum erkennen.
Ständige Angst vor der Entdeckung begleitet die Jordans
Hier überstand sie einen Bombenangriff, dazu die Lebensmittel- und Wasserknappheit und die ständige Angst vor der Entdeckung. Alle drei Jordans überlebten den Zweiten Weltkrieg und fanden nach 1945 wieder zusammen. Ironie der Geschichte: Henriette Jordan pflegte nach dem Krieg ihren schwer kranken Schwager, der ein glühender Nazi war und seinen Bruder Franz sogar zwingen wollte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen.
Diese Menschenfreundlichkeit machte wohl auch Hanna Jordan aus. Als Zeitzeugin berichtete sie in Wuppertaler Schulen vom Holocaust. Sie tat das aber nicht als Verfolgte, sie wollte als Versöhnerin durchs Leben gehen, berichtet ihre Biografin Anne Linsel. Auch Johannes Rau schrieb im Geleitwort zur Biografie, dass man von Jordan lernen könne, „dass es sich lohnt, für ein menschliches Zusammenleben in unserer Zeit kraftvoll und mutig einzutreten.“
Die Namen der Lebensretter stehen auf der Ehrenmauer im Garten der Gerechten
Für die Rettung der Familie Jordan wurden am 11. August 2009 Fritz und Auguste Fuchs, Annemarie Möller, Ernst und Elfriede Lusenbrink, Therese und Günther Ebert als Gerechte unter den Völkern geehrt. Ihre Namen stehen seither auf der Ehrenmauer im Garten der Gerechten in Yad Vashem.
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Das hat Möller nicht mehr erlebt. Sie starb laut Sterbeurkunde, die im Stadtarchiv liegt, am 7. April 1978 in ihrer Wohnung Am Bollheister 48 in Buchholz. Auch Hanna Jordan, die 2014 starb, hat vermutlich nichts von dieser Ehrung gewusst. „Das hätte sie so stolz gemacht“, ist Anne Linsel sicher, „das hätte sie jedem erzählt“.
Das ist Yad Vashem:
Yad Vashem ist die Internationale Holocaust Gedenkstätte in Jerusalem in Israel. Hier wird den sechs Millionen ermordeten Juden ein Gesicht gegeben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat 2020 zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als erstes deutsches Staatsoberhaupt in der Holocaust-Gedenkstätte eine Rede gehalten.
Den offiziellen Titel „Gerechter unter den Völkern“ verleiht Yad Vashem im Auftrag des Staates Israel und des jüdischen Volkes an Nichtjuden, die während des Holocaust ihr Leben aufs Spiel setzten, um Juden zu retten. Der Begriff Gerechter unter den Völkern steht für Nichtjuden, die Juden in Zeiten der Gefahr zur Seite standen
Viele als Gerechte unter den Völkern geehrte Deutsche sind kaum bekannt
Wir danken für die Unterstützung bei der Recherche unter anderen: Dr. Bastian Gillner vom Landesarchiv, Dr. Andreas Pilger vom Stadtarchiv, dem Zentrum für Stadtgeschichte und Industriekultur in Wuppertal, der Pressestelle der Stadt Wuppertal, der Begegnungsstätte Alte Synagoge - und dem Zeit-Magazin: Mit einer Deutschlandkarte, die die Orte zeigt, in denen Menschen unter Einsatz ihres Lebens während des Holocaust Juden halfen, wurde die Suche angestoßen. In ganz Europa seien 27.000 Menschen als Gerechte unter den Völkern geehrt worden, heißt es da. „Kaum jemand der Geehrten hat es ins kollektive Gedächtnis der Deutschen geschafft, es ist weitgehend eine Liste Unbekannter.“ Das soll zumindest für Annemarie Theodora Möller nicht mehr gelten.
>>>AUFRUF
Wer hat Annemarie Theodora Möller zu Lebzeiten gekannt? Wir suchen Menschen, die etwas über die Heldin von Duisburg erzählen können. Vielleicht gibt es noch Fotos von ihr oder von der Apotheke in Neuenkamp. Wir würden ihre Geschichte gern weitererzählen. Ihre Nachrichten schicken Sie bitte an annette.kalscheur@funkemedien.de