Gladbeck. Markus Diegmann aus Gladbeck wurde als Kind von drei Männern missbraucht. Heute kämpft der 53-Jährige dafür, dass die Taten nicht mehr verjähren.
Ein Leben lang ist Markus Diegmann seinen Erinnerungen davongelaufen, und als sie ihn einholten, war es zu spät. „Da kann man leider nichts mehr machen“, sagten die Polizisten, bei denen er sie anzeigen wollte: die drei Männer, die ihn als Kind missbraucht hatten. Verjährt, so ist das Gesetz. Für ihn selbst wird nichts mehr gut, glaubt Diegmann, aber für andere Opfer vielleicht besser: Seit mehr als 1000 Tagen reist der Gladbecker durchs Land, um Unterschriften zu sammeln gegen die Verjährung von sexuellem Missbrauch an Kindern.
Markus Diegmann träumt nie, „nicht einmal etwas Gutes“. Sein Albtraum kommt, wenn er wach ist: Markus als Kind, er ist fünf Jahre alt, er liegt in weißer Bettwäsche mit Bügelfalte. Davor der kleine, dicke Schießbudenmann, nackt, erregt. „Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin.“ Er weiß auch nicht, wie er der Situation entkam. Aber er ist immer noch auf der Flucht.
Kinderpornos mit Markus in der Hauptrolle
Er ist jetzt 53 und der Schausteller vom Schützenfest in seinem Heimatdorf nicht der einzige Mann, der ihn bis heute verfolgt. Später ist es der Untermieter, der ihn lockt mit Chips, Cola und offenem Bademantel: „Fass doch mal an!“ Zwei, dreimal in der Woche habe der ihn vergewaltigt, sieben, acht Jahre lang. Und dann der beste Freund des Vaters: Der dreht Filme mit der Super-8-Kamera, tagsüber Western, abends Pornos, mit Markus in der Hauptrolle. Er bringt dem Jungen auch das Autofahren bei, man muss sich auf seinen Schoß setzen dafür.
„Das Schlimmste“, sagt Diegmann, „was einem Kind passieren kann, ist, dass man sein Zuhause zerstört.“ Dabei ist das Bauernhaus im Rheinischen auch ohne die Männer kein guter Ort. Eine Mutter auf Nachtschicht, ein Vater, der schlägt und noch gewalttätiger wird, als Markus beginnt, sich wieder in die Hose zu machen. Acht Geschwister, kein Strom und ein Plumpsklo im Hof. Damals hat es begonnen, dass das Kind immer nur weg will, weg von daheim, weg aus der Schule, weg, nur weg. Markus Diegmann jobbt bis in die Nacht, heiratet mit 18 – bloß nicht zuhause sein.
Kratzspuren unter der Schädeldecke
Sieben verschiedene Berufe hat er gelernt, er arbeitet auf dem Bau, ist Technischer Zeichner, Software-Experte, Journalist, Berufsschullehrer, er reist um die Welt, wird Vater, verdient sehr gutes Geld, findet eine zweite Frau und verliert auch diese wieder … Jemand hat mal gesagt, er sei wie eine Flipperkugel. Immer in Bewegung, immer auf der Flucht, über-aktiv, nur, um nicht nachdenken zu müssen. „Ich sehe“, sagt der 53-jährige Markus Diegmann über den jüngeren Diegmann, „meine Schädeldecke von innen mit Blut- und Kratzspuren. Weil ich die Erinnerungen immer mit Gewalt aus meinem Bewusstsein raushalten musste.“
Er findet keine Ruhe, er sucht sie auch nicht. Denn mit der Ruhe kommt die Erinnerung. „Ich muss immer noch schneller laufen“, sagt er bis heute, ein Buch zu lesen zum Beispiel, „geht gar nicht“. Er schläft, aber wenn er wach wird, ist er angespannt, immer. Sein Bauch tut weh, weil er die Muskeln verkrampft.
Oft erzählt, aber deshalb nicht weniger schmerzhaft
Dann kommt der Tag, an dem sich seine Firma verkleinert. Kündigung. Und jetzt? Flieh!, schreien Körper und Seele, das haben sie immer getan, aber Markus Diegmann findet keinen Fluchtweg mehr. Bei einem Freund in Bottrop bricht er zusammen, Tränen, er redet eine ganze Nacht, danach liegt die Wunde offen.
Wie an jenem Abend 2013 hat er seine Geschichte inzwischen oft erzählt, sogar im Fernsehen, manche Sätze formuliert er immer gleich. Aber sie tun deshalb nicht weniger weh. „Es wird nicht besser“, er müsste das nicht sagen: Der ganze sportliche Mann bebt, Tränen steigen in seine Augen, die Beine wippen, dass der Wagen wackelt, in dem er sitzt. Das Wohnmobil, Kennzeichen Duisburg, ist jetzt sein Zuhause, er hat es immer in seinem Rücken, seit er im September 2016 aus Gladbeck davonfährt.
Zwölf Kilo abgenommen, Therapie abgebrochen
Er kann nicht mehr in engen Räumen sein, schläft draußen, zwölf Kilo nimmt er ab. Er kann nicht mehr arbeiten, „der Stresspegel geht nicht mehr runter“, eine stationäre Therapie muss er abbrechen, weil das Okay zur Kostenübernahme nicht rechtzeitig kommt. Schließlich macht er sich auf seine „Tour41“. „Nichts zu tun, ist auch nicht gut“, hat er beschlossen, die Zahl zur Tour begründet er in schwarzen Buchstaben am Heck des Wohnmobils: „Jeden Tag werden in Deutschland 41 Kinder missbraucht.“ Er hat das errechnet aus Kriminalstatistiken, es sind nur die angezeigten Fälle.
Es kleben noch mehr Nachrichten auf der Karosserie, allesamt Überschriften aus Zeitungen: „Kinderarzt soll 21 Jungen missbraucht haben“, „Bayer vergewaltigt Mädchen“, „Mutter betäubte Tochter für Missbrauch durch Freund“, „Familienfreund wird zum Schrecken der Kinder“. Diegmanns Mission: „Sexueller Missbrauch an Kindern darf nicht verjähren!“ Er hat einen Verein dafür gegründet, eine Internetseite aufgebaut, eine Petition aufgelegt. Die „Tour41“ ist seine neue „Überlebensstrategie“.
Manche Leute drehen sich weg, sie wollen das „Opfer“ nicht sehen
Auf der Motorhaube haben Freunde unterschrieben, Unterstützer, Lara und Birthe, Mario und Gert, es sind auch einige Diegmanns darunter. Aber das Verhältnis zur Familie ist schwierig, noch immer kann er mit den Geschwistern nicht offen reden. „Ein ,Weißt du noch?’ zieht mir die Schuhe aus, das halte ich nicht aus.“ Dafür unterstützt ihn sein inzwischen erwachsener Sohn.
Bislang parkte das Wohnmobil an 180 Stationen in ganz Deutschland, Diegmann erzählt, sammelt Unterschriften, an die 350.000 hat er schon. Dabei wird das auffällige Auto nicht überall gern gesehen. Es gebe Orte, sagt Markus Diegmann, „da fühle ich mich wie in einer Blase, als wäre ich nicht da“. Die Leute drehten sich weg, Mütter wollten nicht, dass ihre Kinder die Schlagzeilen lesen, er glaubt, sie wollen „das Opfer“ nicht sehen, seine Geschichte nicht.
Missbrauch von Lügde macht ihn „sprachlos und sauer“
Aber es gibt auch die anderen, die zögernd zu ihm kommen, die leise raunen: „Ich auch.“ Und: „Aber ich habe noch nie darüber gesprochen.“ Es tröstet ihn, dass er nicht allein ist. Aber es belastet ihn zugleich. „Wie viele wir sind!“ Viele, die wie er erst als Erwachsene begreifen, was ihnen zugestoßen ist. Die erst als Erwachsene Worte dafür finden und den Mut, sie auszusprechen. „Es ist wichtig“, sagt Diegmann, „dass die Menschen erfahren, wie sich ein missbrauchtes Kind fühlt. Was der Missbrauch für Auswirkungen hat auf sein ganzes Leben.“ Der Missbrauchs-Skandal von Lügde hat ihn „sprachlos und sauer“ gemacht, „weil mir sofort klar war, dass es da auch wieder verjährte Fälle gibt“.
Markus Diegmann ist durchaus ein Frauentyp, kahler Kopf, Lachfältchen, sportliche Figur in modernen Klamotten. Aber er sagt: „Ich bin nicht beziehungsfähig, weil ich keinen nah an mich ranlassen kann.“ Dabei hat er immer „die große Liebe gesucht“, aber schnell wieder alles Gute zerstört. Er weiß das, er schafft es nicht einmal, sich dafür zu entschuldigen: „Ich kann nicht anders.“ Freunde trifft er lieber allein, „ich nehme an nichts mehr teil“. Seit seiner Kindheit hat er weder Weihnachten noch Geburtstag gefeiert, „an Festtagen hat oft Missbrauch stattgefunden“. Schlafen kann er eigentlich nur in seinem Schlafsack, weiße Laken kann er auch fast 50 Jahre danach nicht ertragen.
Keine Tablette, um zu vergessen
„Es gibt keine Tablette des Vergessens“, sagt Diegmann. „Schuld und Scham“, diese beiden, die er immer zusammen nennt, „hat man in den Zellen. Das geht nie weg.“ Scham ja, aber wieso Schuld? „Ich hätte mich ja wehren können“, denkt Diegmann. „Ich war ein kräftiger Junge.“ Die Finger knacken, die Beine beben, die Männer, die ihm das alles antaten, leben noch. „Aber ich darf nicht einmal ihre Namen nennen. Das wäre Rufmord.“
Eine Million Unterschriften wollte Markus Diegmann haben dafür, dass Missbrauch nicht mehr verjährt, auch nach Jahrzehnten noch bestraft werden kann. Er musste lernen: „Das schafft man mit Eisbärbabys, aber nicht mit missbrauchten Kindern.“ 500.000 will er trotzdem voll machen, im Herbst will er sie abgeben, egal wie viele es bis dahin sind. „Das Ziel war, die Gesellschaft zu erreichen.“ Aber was ist danach? Markus Diegmann hat keinen Plan. Er hat Angst. Wohin soll er diesmal fliehen?