Duisburg. . Nach sieben Monaten „The Walk – Keine Retrospektive“ im Lehmbruck-Museum mahnt der Künstler: „Vergessen Sie nicht, zur Europawahl zu gehen.“

Jochen Gerz hat gestern kein Fazit seines Projekts „The Walk – Keine Retrospektive“ im Lehmbruck-Museum gezogen. Er hat Fragen gestellt und diese Fragen kommentiert – die Antwort überlässt er seinen Zuhörern. Wenn man seinem essayistischen Text einen Titel geben würde, lautetet der wohl „Das Wir im Kopf“. Über dieses „Wir“ ist der Künstler tief besorgt, in diesem „Wir“ möchte er den Wunsch schüren, Europa zu retten.

Jochen Gerz hat einen sehr nachdenklichen, politisch-philosophischer Text gesprochen, dessen vorletzter Satz nach Wahlwerbung klingt: „Vergessen Sie nicht, am 26. Mai zur Europawahl zu gehen“. Und mit dem sehr eindringlichen Satz endet: „Plötzlich steht Europa nicht mehr zur Wahl.“

„Jeder hat ein Wir im Kopf“

Die Sorge des 79-Jährigen, der in „The Walk“ autobiografische mit politischen Notizen verbindet, gilt der zunehmenden Abschottung Europas, dem inhumanen Ausblenden der Toten im Mittelmeer, dem Rückfall in Krieg und Barbarei. Am Sonntag hat er es so ausgedrückt: „Jeder hat ein Wir im Kopf. Der Andere kommt schlechter Weg als das Wir“. Und: „Es ist schwierig, dem Anderen einen Platz auf der Heimtribüne einräumen zu wollen.“

Gerz, der in Berlin geboren wurde, von 1966 bis 2007 in Paris gelebt hat und heute in Irland ansässig ist, weiß: „Man ist und bleibt ein Hergewehter.“ Dem Vergessen folge der Tabubruch, „der Rückfall passiert.“ Ein Wir im Kopf zu haben, sei nicht falsch. Aber: „Soll an dem Wir im eigenen Kopf die Welt genesen?“ Und Gerz formuliert seine Antwort: „Mein Bild ist der Andere. Ich bin du.“ Jeder sei der Autor.

Ein Projekt für Geflüchtete kam hinzu

ochen Gerz’ Weg ist mit „The Walk“ im Duisburger Lehmbruck-Museum nicht zu Ende.
ochen Gerz’ Weg ist mit „The Walk“ im Duisburger Lehmbruck-Museum nicht zu Ende. © Heinrich Jung

Jochen Gerz hat es den Zuhörern, den Museumsbesuchern, aber auch dem Museum nicht leicht gemacht, als er forderte, seine Installation ganz praktisch mit einem Projekt für Geflüchtete zu verbinden. Das Museum als Betrieb, in dem Geflüchtete eine berufliche Perspektive bekommen. Das war schwierig, weil es für so ein Vorhaben keine Genehmigung gibt, die in eine bürokratische Schublade passt, wie Cihan Sert von der Kreishandwerkerschaft sagte.

Praktikant Mohsen Yazdani berichtete, er habe seine Angst vorm Sprechen verloren und „sehr gute Erfahrungen gesammelt“, etwa über den anderen Umgang miteinander am Arbeitsplatz. Es sei darum gegangen, Begegnungen zu initiieren, sagte Kunstvermittlerin Sybille Kastner. Deswegen werde auch die Samstagsreihe „Mitreden“ im Museum weiterlaufen.

Für Museumschefin Dr. Söke Dinkla sind „die sieben Monate wie im Flug vergangen“. Gerz stelle einerseits das Museum in Frage, andererseits habe er es mit seinem Text an den Glasfronten gewürdigt – „eine Hommage an die Architektur“. Der 100-Meter-Steg habe Perspektivwechsel auf die Kunst ermöglicht und das Museum „als Skulptur ins Zentrum der Stadt gerückt“.