Duisburg. . Die „Extraschicht“ am Samstagabend lockte allein in den Duisburger Landschaftspark Nord rund 15.000 Besucher.
„Extraschicht“: Das ist die Begegnung mit den Industrie-Kathedralen des Ruhrgebiets, bedeutet für Besucher wegen des großen Andrangs an vielen Orten aber auch, sich ständig am Ende einer langen Warteschlange einreihen zu müssen. Bei der 16. Auflage der Nacht der Industriekultur überstanden auch 15.000 Gäste im Meidericher Landschaftspark Nord manche Geduldsprobe mit Bravour.
Auf dem Cowperplatz ist kaum noch ein Durchkommen: Hunderte Gäste stehen aufgereiht dicht an dicht vor einer stählernen Treppe. Hier ist der Treffpunkt für die Hochofen-Führungen mit ehemaligen Hüttenwerkern. Jeweils 20 Neugierige bilden eine Gruppe. Dann heißt es für die dahinter: in Tippelschritten weiter zum Ziel vorarbeiten – und wieder 15 Minuten warten. Auf einer kleinen Bühne sorgt die Duisburger Band The Atrium für Überbrückungsmusik. „Vielen Dank fürs Zuhören, was ihr ja gar nicht freiwillig macht“, scherzt der Sänger. „Ihr seid die beste Schlange, vor der wir je gespielt haben.“
Abseilen trotz Höhenangst
Einige Schritte weiter bieten die im Landschaftspark beheimateten Kletterer des Deutschen Alpenvereins die Chance, sich von einem der stählernen Bauten abzuseilen. Christian Josch aus Wedau und seine Frau Raphaela machen mit. „Wir sind Extraschicht-Stammgäste, sind schon zum fünften Mal dabei“ erzählt der 35-jährige Autokranfahrer. „Von hier geht’s noch weiter nach Gelsenkirchen, wo wir im Nordsternpark die Lasershow schauen wollen.“ Dass seine Frau sich traut, über die Brüstung in den Abgrund zu steigen, findet er bemerkenswert: „Die hat eigentlich Höhenangst.“ Das Interesse ist riesig, die Warteschlange natürlich auch.
Ohne Wartezeit geht es hingegen hinein in die Gießhalle: Dort gibt Anja Lerch einmal wieder die Chorleiterin. Sie singt, gekleidet im langen schwarzen Ledermantel, vor den gut gefüllten Stufen-Stehplätzen nicht nur Populäres wie „Dancing Queen“ oder „Über den Wolken“, sondern stimmt auch „Freude schöner Götterfunken“ an. In den Tagen einer bröckelnden EU-Gemeinschaft ist diese Hymne ein Stück gesungenes Verbundenheitsgefühl. Gänsehaut, Herzklopfen und Ovationen der Mitsänger.
Zeit zum Innehalten in der Gebläsehalle
Weiter geht’s in die Gebläsehalle. Die bietet auch den Rastlosesten unter den Besuchern mal die Chance zum Innehalten. Eine Fotoshow mit spektakulären Aufnahmen des Landschaftsparks und seiner wilden Natur lädt zum Verweilen ein, ehe es zurückgeht in den Strom der streunenden Parkentdecker.
Zu ihnen gehören auch Natascha Sredzinski aus Köln und Steffen Sauder aus Berlin. „Wir waren erst in Ruhrort am Binnenschifffahrtsmuseum und haben danach eine tolle Rundfahrt gemacht. Wir finden Häfen toll“, erzählt das Duo. Mehr als beeindruckend finden sie aber auch den Landschaftspark Nord, den sie erstmals erleben. „Wir wollen gleich von hier noch mit dem Nostalgiezug in das Thyssen-Krupp-Werk hineinfahren.“
Auch dort am Bahnsteig: Warteschlangen. Ganz vorne, gleich hinter der Diesellok, ist der Salonwagen eingereiht. Dort steht Fabian Bresch. Der Lokrangierführer (25) bei Thyssen-Krupp ist mit seinen Kollegen Alexander Walczak und Daniel Schmidt dafür zuständig, dass der Zug die Zehn-Kilometer-Rundfahrt von Meiderich durch das Stahlwerk meistert. Während Walczak die Lok fährt, beantworten Schmidt und Bresch die Fragen der 250 Fahrgäste. „600 Tonnen Roheisen passen in so eine Torpedowanne“, erzählt Bresch, während ein Güterzug vorbeifährt. Die Abstrahlung der Wärme ist bis hinein in den Nostalgiezug zu spüren. „Ich wollte immer als Besucher zur Extraschicht, habe es aber nie geschafft. Jetzt darf ich sogar ein Teil davon sein“, sagt Bresch und strahlt. Weil der Zug unterwegs ist, verpassen Bresch und seine Kollegen um 23 Uhr das spektakuläre Höhenfeuerwerk. Der Himmel über dem Landschaftspark brennt – genau wie die Herzen der staunenden Betrachter.
Tausende Besucher in Duisburg
Ansturm auf die Werksführungen bei Thyssen-Krupp
Auch die anderen „Extraschicht“- Standorte in Duisburg erwiesen sich als Publikumsmagneten: Zum Binnenschifffahrtsmuseum nach Ruhrort lockten Theateraufführungen, eine Lichtperformance sowie Hafenrundfahrten. Im Innenhafen begeisterten Walking Acts, Musikbands sowie die dort angesiedelten Museen mit einer kunterbunten Angebotspalette – ein mitternächtliches Höhenfeuerwerk inklusive. Überrannt vom eigenen Erfolg wurde Thyssen-Krupp: Die Werksführungen per Bus erlebten einen nicht für möglich gehaltenen Ansturm.
„Schon eine Stunde, bevor es losging, haben sich lange Wartschlangen gebildet“, erzählt Mark Stagge, einer der Firmensprecher. 16 Busse, die jeweils 50 Fahrgästen Platz boten, waren ab 18 Uhr quasi im Dauereinsatz. Bis 1.30 Uhr wurden rund 6000 Fahrgäste über das riesige Gelände geschleust. „Insgesamt hatten wir knapp 8000 Besucher bei uns“, so Stagge, der die überwältigende Resonanz als „tolle Sache“ bezeichnete. „Wir haben viel positives Feedback der Gäste bekommen und werden nun prüfen, ob wir so etwas bei einer der nächsten Extraschichten wiederholen.“
Doch nicht nur Thyssen-Krupp erlebte seine Premiere bei der Nacht der Industriekultur, eine solche feierte auch die Walking-Act-Gruppe des Fenix-Theaters aus Hannover bei ihrem Auftritt im Landschaftspark Nord. In ihren skurrilen Masken sahen die Künstler aus, als seien sie dem Film „Alice im Wunderland“ entsprungen. Ihre Kostüme leuchteten von innen – ein Effekt, der vor allem in den Abendstunden seine Pracht entfaltete. In den Händen hielten sie Lichtkugeln. Ein beliebtes Fotomotiv für alle Besucher.
Erstmals dabei waren auch die Lindy-Hop-Tänzer. Dieser Stil, der in den 30er und 40er Jahren seine Blütezeit erlebte, wird durch eine aktive Szene im Ruhrgebiet zu neuem Leben erweckt. Peter Bieniossek, stilecht mit Ballonmütze, Karo-Pullunder und Anzughose, und seine Frau Marina Fischer animieren die Gäste in der Kraftzentrale zum Mittanzen. Rhythmischer Ausklang einer langen Nacht.