Duisburg. . Die 19. Auflage des „Traumzeit“-Festivals in Duisburg begeisterte die Besucher vor der imposanten Industriekulisse des Landschaftsparks Nord.
Die „Traumzeit“ ist der Desperado unter den Musikfestivals. Sie frönt nicht dem Gigantismus, hält sich nicht an branchenübliche Spielregeln und verzichtet auf Rockstars mit utopischen Gagenforderungen. Sie braucht auch keinen Umzug auf plattgewalzte Felder in der Pampa, sondern bleibt dort, wo ihr stählerner Herzschlag pocht: inmitten der Industriekultur. Nicht umsonst trug die 19. „Traumzeit“-Auflage am Wochenende im Duisburger Landschaftspark Nord den Beinamen „Festival am Hochofen“.
Fast anderthalb Jahrzehnte war die „Traumzeit“ ein renommiertes Treffen für die Weltmusik- und Jazz-Szene. Genre-Größen gaben sich die Klinke in die Hand. Ein treuer, zahlenmäßig stets überschaubarer Zuhörerkreis pilgerte zum alten Hüttenwerk. Die Neuausrichtung folgte 2013: Das Team um Festivalmacher Frank Jebavy wagte einen stilistischen Umbruch. Seitdem stehen ambitionierter Rock und Pop jenseits des Mainstreams im Mittelpunkt. Und Tausende strömen seitdem Jahr für Jahr nach Meiderich. So auch diesmal.
Plattensammler bekommt am Tourbus die Autgramme der Musiker
Michael Thom aus Oberhausen ist Stammgast. In seinem Stoffbeutel: Vinylalben. Manche hat er mitgebracht, andere gerade am Fanartikelstand erworben. Der Sammler strahlt, er wartet immer an Tourbussen und lässt die Platten von den Bandmitgliedern unterschreiben. Vielleicht ist es dieser heute selten gewordene Nah-Kontakt zwischen Musikern und Fans, der die „Traumzeit“ ihr erfolgreiches Nischendasein verdankt.
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Anna (19) war mit ihrer Freundin aus Wuppertal eigentlich wegen Tocotronic angereist. Doch jetzt gibt sie sich ganz den feschen Jungs von Milliarden hin. Die Band aus Berlin zählt zu den Charts-Raketen der Saison: Kippe im Mund, Bier in der Hand und fast nur ein Tempo auf der Bühne: Vollgas. Garniert mit frechen deutschen Texten. Die beiden Sänger Ben Hartmann und Johannes Aue sind nach ihrem Auftritt in der Gießhalle immer noch fasziniert von der Architektur. Hartmann, mit fast ehrfürchtigem Blick auf die Industriekulisse: „Dieser Raum hat beinahe etwas Andächtiges. Es fühlt sich auf der Bühne so an, als rutsche man in eine andere Zeit hinein.“
19 Auftritte in 21 Tagen schlauchen
Erinnerungen an alte Zeiten auch beim Auftritt der Noise-Rock-Ikonen von Dinosaur Jr. J Mascis, der in Ehren ergraute Bandchef, betritt in Trainingsanzug und mit roter Nerd-Brille die Bühne. Seine Matte lugt unter der Baseballkappe hervor. Den Auftritt absolviert der Gitarrist und Sänger im Sitzen. „Er ist total erschöpft“, sagt Schlagzeuger Murph später, „wir hatten in den letzten 21 Tagen 19 Auftritte. Das war wohl etwas zu viel.“
An Intensität verliert der Gig dadurch aber nichts. Im Gegenteil: Die Lautstärkeregler sind bei Dinosauer Jr. wie immer bis zum Anschlag aufgedreht. Fans gefällt’s. Manch neutraler Neugieriger aber flüchtet – und zieht weiter zu einer der anderen drei Bühnen. Denn „Traumzeit“ heißt auch immer: ausprobieren, sich Neuem und auf den ersten Anschein Abseitigem anzunähern. Dieses Prinzip „Stippvisite“ sorgt bei allen Auftritten für ein stetes Kommen und Gehen.
Tocotronic als Topact zeigen auch Flagge gegen Rassismus
Bei Tocotronic, neben Air dem Top-Act des Festivals, bleiben aber fast alle bis zum Schluss. Sänger Dirk von Lowtzow ist wie gewohnt in Plauderlaune. Er fordert zum Tanz auf, wirft Blumen in die Menge und geißelt den Rassismus und Nationalismus vieler AfD-Politiker. Der erste Song gibt gleich die Richtung des gesamten Auftritts vor: „Let There Be Rock!“
Traumzeitfestival 2016
Um kurz vor Mitternacht entpuppt sich dann noch das Bochumer Duo Grandbrothers in der Gebläsehalle als Top-Entdeckung. Ihr aus Flügel und Computer kombinierter Instrumentalsound wirkt wie ein Zusammenprall zwischen Klavierfestival und Kling-Klang von Kraftwerk. Dies wäre der perfekte Soundtrack für einen Flug zum Mars. Die Zuhörer versinken ob der sphärischen Klänge in sich selbst. Zeit zum – Träumen.
Das „Traumzeit“-Festival begeistert nicht nur regelmäßig die Besucher, sondern immer auch die Musiker – vor allem jene, die zum ersten Mal die imposante Industriekulisse des Landschaftspark Nord erleben.
Auch die Musiker sind begeistert vom Landschaftspark Nord
„Die Architektur hier ist spannend, ja geradezu fesselnd“, gerät Marten Ebsen ins Schwärmen. Der Gitarrist der deutschen Punkrockband Turbostaat, die am Freitagabend die Gießhalle zum Beben brachte, erzählt zwar von einigen akustischen Problemen beim Soundcheck. „In so einer Stahlkonstruktion ist es immer schwierig, den Sound richtig abzumischen“, so Ebsen. Das konnte aber den tollen Gesamteindruck des Auftrittsortes nicht schmälern.
„Wir sind positiv überrascht. Schon als wir vor unserem Auftritt in die Gebläsehalle hineingekommen sind, hat es uns umgehauen“, erzählt das Hamburger Singer-Songwriter-Duo Sarah And Julian. Die Geschwister werden ihren ersten Auftritt in Duisburg in Erinnerung behalten. Das Publikum war begeistert – etwa vom Song „Monster“. Bei diesem würde sonst die Schauspielerin Meret Becker mit auf der Bühne stehen und singende Säge spielen, erzählte Sarah den Zuhörern. Die „Tatort“-Kommissarin war diesmal aber leider verhindert.
„In so einer Location haben wir noch nie gespielt“
„Es ist wirklich cool hier. In so einer Location haben wir noch nie zuvor gespielt – und wir haben unterwegs schon wirklich viel erlebt“, sagt Murph, der Schlagzeuger der Noise-Rocker von Dinosaur Jr., und lacht. Die in den 80ern gegründete Band ist nach der Beilegung von Streitigkeiten und einer damit verbundenen Schaffenspause nun wieder in ihrer Originalbesetzung unterwegs. Bemerkenswert: Beim Auftritt hatte Sänger und Gitarrist J Mascis hinter sich einen wahren Wall aus Lautsprechern aufgebaut. Das Klanggewitter, das er erzeugte, ergoss sich also am heftigsten über seine eigenen Ohren. Klarer Fall von Selbstdröhnung!
Auch Ben Hartmann und Johannes Aue von Milliarden waren von der Gießhalle begeistert: „Dieser Raum hier erzählt was mit. Er wird zum Teil des Auftritts.“