Duisburg. Bundeskanzlerin Angela Merkel erlebte bei ihrem Bürgerdialog in Duisburg ein authentisches Marxloh, das Hilfe vom Bund fordert.
. „Es gibt viel zu bereden“, eröffnet die Kanzlerin den Bürgerdialog pünktlich um 13.15 Uhr im zum Fernsehstudio umgebauten Festsaal des „Hotels Montan“ – auch mit Verweis auf die üppige Vor-Berichterstattung und fügt hinzu: „Dass die Wahl auf Marxloh gefallen ist, war wohl kein Fehler. Es ist doch nicht schlecht, wenn über die Probleme Marxlohs geredet wird.“ Ihre Erkenntnis am Ende der 90 Minuten: „Ich werde jetzt mehr darüber erzählen, was hier in Marxloh klappt und weniger darüber, was nicht.“
Und Merkel beteuert gleich zu Anfang: Bei der Auswahl der Teilnehmer und der Fragen habe sie „keine Hand im Spiel gehabt und auch kein anderes Körperteil“. Der Verlauf besänftigt auch Bezirksbürgermeister Uwe Heier, der dem Dialog zunächst herzlich wenig abgewinnen konnte: „Die Leute konnten frei reden. Und Merkel hat ihnen zugehört. Ob den Menschen nun auch geholfen wird, muss man sehen.“
Es wird heiß im Hotelsaal, an dessen Rückwand noch der Karnevalsschmuck hängt. Das liegt nicht an der hitzigen Debatte, sondern an den Scheinwerfern. Denn was sich Merkel anhören muss, wird mit Engagement und Willenskraft, aber ruhig vorgetragen. Und Merkels Reaktionen und Antworten sind bedächtig („Das muss ich noch mal nachgucken, ohne jetzt etwas zu versprechen“), und sie gibt zum Schluss sogar ein konkretes Versprechen: Sie will Mitarbeiter ihrer Ministerien zusammenstellen und sie mit Vertretern von Stadt und Land nochmals nach Marxloh schicken, um ungestört vom gestrigen Blitzgewitter Fragen, Kritik und Wünsche abarbeiten zu lassen.
Hinweise bekam sie reichlich: Von Pater Oliver, der freundlich, aber bestimmt und eindringlich Unterstützung vom Bund einforderte, um den Armutsflüchtlingen zu helfen, auch in seinem Sozialzentrum Petershof. Hier bleibt Merkel eher reserviert, will nicht, dass die Botschaft nach Bulgarien oder Rumänien geht, dass „jeder kommen kann. Es gibt dort keine Bürgerkriege“. Um die Anwendung der Krankenversicherungen müssten sich auch die Heimatländer stärker bemühen.
Hinweis auch von Norbert Geier, Chef der Werkkiste in Marxloh: Bessere Förderbedingungen für Qualifizierungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose und Jugendliche fordert er und beklagt Einsparungen und Restriktionen: „Nehmen Sie das bitte mit. Wir wollen die Leute qualifizieren und sie nicht die Straße fegen lassen“, mahnt er. „Ich werde mit Arbeitsministerin Nahles sprechen“, verspricht Merkel.
Mahnung auch von Edeltraud Klabuhn, Stadtteilmangerin der Entwicklungsgesellschaft EG DU: Das Förderprogramm „soziale Stadt“ will nicht in Steine investieren, sondern in soziale Projekte, in Sprachförderung etwa. „Das geht nicht mehr“, fordert sie einfachere Förderwege statt komplizierte, EU-Normen entsprechende Anträge. Merkel wirkt nachdenklich: „Das muss ich mir anschauen.“ Und Heinz Maschke, Chef der EG DU, gibt ihr mit auf den Weg: „Wir brauchen einen Sonderfonds für Marxloh.“
Beeindruckt ist Merkel von Christina Bleks und ihrem Projekt „Tausche Bildung für Wohnen“, bei dem junge Leute gegen Logis Marxloher Kinder unterrichten. „Schicken Sie uns Ihre Leute her“, schlägt Bleks vor. Merkel zollt ihr Respekt: Da packt jemand an. Und sie will die Leute schicken. Merkel beschwichtigt auch Halil Özet vom Medienbunker, der beklagt, dass die Negativ-Presse im Vorfeld „die ganze Arbeit und das Image kaputt gehauen hat“. Resolut ist sie beim Thema Sicherheit und Gewalt. „Toleranz darf man nicht mit Regellosigkeit verwechseln“, stellt sie klar. Und richtig sei, sagt sie einer Marxloherin, dass der NRW-Innenminister mehr Polizei nach Marxloh beordert hat. Und kriminellen Schleusern gehört das Handwerk gelegt. Punkt. Die 90 Minuten sind vorbei.
Oberbürgermeister Sören Link macht noch ein Erinnerungsfoto von Merkel und Erkan Üstünay, dem Vorsitzenden des Integrationsrates, mit dem sie zu Beginn locker geplaudert hatte. „Unterm Strich bin ich zufrieden. Das war authentisch und gut vorbereitet. Und ich habe die Hoffnung, dass Merkel vieles nach Berlin mitnimmt“, meint der OB. „Ich glaube, die Kanzlerin hat die Situation hier wahrgenommen. Es war gut, dass sie hier war“, bilanziert Manfred Berns von der Bürgerstiftung.
„Wir haben eine Menge Hausaufgaben im Gepäck. Das müssen wir schnell abarbeiten, damit die Menschen auch sehen, dass wir wirklich was machen“, bestätigte Peggy Liebscher, Cheforganisation der Kampagne „Gut leben in Deutschland“.
Workshop bereitete die Merkel-Runde vor
Die ganze Aufregung im Vorfeld des Besuchs der Bundeskanzlerin in Marxloh war aufgeblasen: Nein, die Teilnehmer des Bürgerdialogs mit Angela Merkel mussten im Vorab-Workshop keine Fragen erarbeiten, die später gefiltert gestellt werden sollten. Und nein: Die 60 Teilnehmer haben auch nicht lernen müssen, wie man sich korrekt verhält, wenn man der Regierungschefin gegenübertritt.
In Gruppen hatten die Workshopteilnehmer im Marxloher Medienbunker am Dienstagmorgen zwei Stunden Zeit, Themen zu erarbeiten, die mittags unbedingt zur Sprache kommen sollten. Das waren: Sicherheit, Infrastruktur, Bildung.
Fachleute sollen helfen
In lockerer Atmosphäre machten sich die Vertreter von Kirchen, Vereinen und Verbänden an die Arbeit. Was bedeutet für Sie gutes Leben? Was garantiert gutes Leben in unserer Gesellschaft? Diese Fragen sorgten rasch für Diskussionen an den Tischen. Auf Kärtchen notierten die Teilnehmer ihre Vorstellungen. Zwischendurch schnell ein Schluck Tee oder Kaffee, Soda oder Limo. Dazu ein Keks oder ein Stück Melone. Und weiter ging’s. Die Zeit drängte. Schneller als gedacht, waren die zwei Stunden um und die Schlacht am kalten Büffet mit Zaziki, Oliven, Zucchini und Co begann. Wie bei einer Stehparty standen die Hungrigen an Tischchen – ließen die gerade geendeten Gespräche noch einmal Revue passieren.
Gabriela Grillo, die Marxloher Unternehmerin, ließ den Merkel-Besuch ganz unvoreingenommen auf sich zukommen: „Ich habe noch nie an so einer Veranstaltung teilgenommen.“ Sie ging allerdings nicht davon aus, dass die Kanzlerin „mit dem Zauberstab kommt“ und die Probleme im Stadtteil im Handstreich löst. Aber sie hoffte, dass Merkel genau zuhört. Und so ging sie, wie die meisten der Teilnehmer, am Ende zufrieden nach Hause: „Ich habe das Gefühl, dass Frau Merkel wirklich ein offenes Ohr hatte. Sie wirkte sehr glaubwürdig.“ Gabriela Grillo setzt darauf, wie die meisten Teilnehmer, dass die Kanzlerin ihrer Ankündigung (weitere Gespräche mit Fachleuten aus den Verwaltungen) auch Taten folgen lässt.
Der Marxloher Pfarrer Hans-Peter Lauer und der Geschäftsmann Kai-Jens Heinze waren anfangs skeptisch, dass das Treffen überhaupt was bringt. Beide legten dennoch Wert darauf, dass ihr insbesondere auch von den Problemen durch die Armuts-Zuwanderung aus Südost-Europa berichtet wird – und wissen jetzt, dass Angela Merkel die Sorgen versteht und auf europäischer Ebene nach einer Lösung sucht.
Auch Erkan Üstünay, Vorsitzender des Duisburger Integrationsrates, glaubte zunächst nicht an Hilfe durch die Kanzlerin. Er ist nach dem Gespräch aber überzeugt: „Sie hat viel mitgenommen. Ich hoffe, dass sie hilft, unsere Probleme zu lösen.“
Das hofft auch die Kirchenmitarbeiterin Martina Herrmann: „Wir müssen Frau Merkel jetzt festnageln, Fachleute zu schicken.“
Kommentar: Merkels authentisches Bild von Marxloh
Merkel hat Marxloh so erlebt, wie es ist. Ein Stadtviertel mit seinen strukturellen Problemen, wie es sie in allen Großstädten gibt. Marxloh ist kein Einzelfall. Doch es wurde in dem Medienrummel im Vorfeld dazu gemacht. Die skandalös schlechte WDR-Politiker-WG-Show reiht sich da ein. Nicht der Merkel-Besuch hat Marxloh geschadet, sondern die klischeehafte, nach kaputten Ecken gierende Skandalisierung.
Wäre sie nicht gewesen, es wäre eine authentische, um Sachlichkeit bemühte Diskussion der prominentesten Bundespolitikern geblieben. Denn das war der Bürgerdialog im Hotel Montan. Klar, dass Merkel keine Millionen aus ihrem Blazer zauberte. Sie lebt auch nicht im Berliner Elfenbeinturm ohne zu wissen, was in Deutschland los ist. Aber jetzt weiß sie konkret, was in Marxloh im Argen liegt, wie es sich in dem Stadtteil lebt. Sicher nicht gut und problemlos. Aber ob Pater, Sozialarbeiter, Stadtteilmanager, Vereinsvertreter, Migrant oder Nicht-Migrant: Die Marxloher haben Merkel gezeigt, dass sich um Marxloh kämpfen lässt. Und sie haben Aufmerksamkeit und Hilfe eingefordert.
Nein, das war keine Politshow – im Gegensatz zum Big- Brother-Flop des WDR. Der Dialog hat die Dinge wieder gerade gerückt. Das kann dazu beitragen, Marxloh aus seiner Schieflage zu helfen. Oliver Schmeer