Castrop-Rauxel. .
Fast ein Jahr ist es her, dass Claudia Reißaus ihre Tochter Svenja bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg verlor. Sie durfte nur 22 Jahre alt werden. „Es war so grausam“, erinnert sich Claudia Reißaus.
„Mama, ich mach’ etwas aus meinem Leben“, habe Svenja zu ihrer Mutter gesagt. Svenja ist 22, sie studiert im vierten Semester Jura, arbeitet nebenher, steht auf eigenen Beinen. Die junge Frau aus Castrop-Rauxel hat klare Ziele, sie will Staatsanwältin werden. „Ich hätte gerne gesehen, was aus ihr geworden wäre“, senkt Claudia Reißaus die Stimme.
Ihre Tochter Svenja wurde vor einem Jahr abrupt aus dem Leben gerissen. Es ist der 24. Juli 2010, als das Unfassbare passiert. Bei der Loveparade in Duisburg bricht eine Massenpanik aus. Über 500 Verletzte. 21 Tote.
In Krankenhäusern nach Svenja gesucht
Zwei Tage vor dem Unglück hat Claudia Reißaus ihre Tochter zum letzten Mal gesehen. „Ihre Waschmaschine war kaputt, sie kam zu mir, um Wäsche zu waschen“, erinnert sich die 48-Jährige. „Sie sagte mir, dass sie nun doch nicht zur Loveparade gehen wolle.“ Doch an jenem Samstagabend gegen 22.30 Uhr dann dieser Anruf. „Es war ihr Freund, er wünschte mir herzliches Beileid.“ Fest in dem Glauben, dass Svenja nicht nach Duisburg gefahren war, und völlig irritiert ruft die Mutter in der Nacht auf den 25. Juli bei der eingerichteten Hotline an. Stundenlang versucht sie es, doch sie kommt nicht durch. „Erst am Sonntagmorgen gegen 5 Uhr habe ich jemanden erreicht und habe meine Tochter registrieren lassen.“ Gegen 6.30 Uhr wählt sie erneut die Nummer der Hotline für Angehörige. „Frau Reißaus, ihre Tochter ist nicht unter den Schwerverletzten und Toten“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Mein Ex-Mann und ich sind daraufhin nach Duisburg gefahren, wollten in den Krankenhäusern nachfragen, nach ihr suchen.“ Svenjas Eltern steuern zunächst die Polizeiwache an. „Dort konnte uns aber niemand weiterhelfen.“ Sie fahren weiter zu einer anderen Polizeiwache. Auf dem Weg dorthin klingelt ihr Telefon. „Ob wir unsere Tochter mittlerweile gefunden hätten, hier wäre noch eine weibliche Person“, hat Claudia Reißaus die Worte der Kommissarin noch im Ohr.
Bis heute nichts von der Stadt Duisburg gehört
Zurück auf der Polizeiwache steht den Eltern der schlimmste Moment bevor. „Sie haben mich nach Details, nach Körpermerkmalen befragt“, erzählt die Mutter. Sie habe kategorisch alles verneint – weil sie den Tod der Tochter nicht wahr haben wollte. Die Beamten holen „von unten“ aus der Pathologie ein Foto. „Es war meine Tochter. Es war so grausam.“ Claudia Reißaus weint, zu schmerzhaft sind diese Erinnerungen. „Ich musste dann dem 20-jährigen Bruder mitteilen, dass seine Schwester tot ist.“ Eine schwere Zeit beginnt. In den folgenden zwölf Monaten sind vor allem die Feiertage hart: Weihnachten, Silvester, Svenjas Geburtstag im Januar. Doch ihre Familie gibt der Mutter Kraft. Halt findet sie zudem bei den regelmäßigen Treffen der Angehörigen, im Verein „Sternenkinder Vest“ und bei dem evangelischen Pfarrer Hans-Jürgen Hoeppke, der sie durch die Trauer begleitet.
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„Warum?“, diese Frage stellt sich die Mutter in dieser Zeit immer wieder, bis heute. Sie will wissen, wie dies geschehen konnte. Sie will wissen, ob Svenja leiden musste. Zumindest hier die Antwort, die ein Stück weit erleichtert: „Es ging alles sehr schnell, nur wenige Sekunden.“ Svenja musste nicht leiden. „Ich war voller Hass denen gegenüber, die die Entscheidungen getroffen haben: Sauerland, Schaller, Polizei.“ Bis heute habe sie nichts von der Stadt Duisburg gehört. Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller hingegen habe sich zwar mit den Angehörigen getroffen, bei einem Termin allerdings seine Sekretärin vorgeschickt, sei selbst nicht erschienen. Für Claudia Reißaus bleibt die Frage nach der Schuld, sie hofft auf eine baldige und gerechte Antwort. „Ich wünsche mir, dass endlich einer die Verantwortung übernimmt.“