Bottrop-Kirchhellen. Die neue Folge des Bottrop-Schreibers: Hermann Beckfeld ist auf Höfen in Kirchhellen unterwegs, beim Spargelstechen und zum Durchatmen.
Einfach nur schauen, durchatmen, innehalten. Genießen. Der Himmel ist so herrlich blau und ein bisschen auch wolkenweiß. Ein Schalke-Himmel, den Kirchhellenern ganz nah. Eine kleine Brise versucht, die Wolken zu schieben. Sie streichelt die Grashalme, ist zu schwach, um an Baumästen zu rütteln, verfängt sich in Hecken.
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Es ist gewöhnungsbedürftig ruhig für einen Städter, ich höre nur das leise Rauschen der Autos auf der nicht fernen B 225. Auf der anderen Seite der Bundesstraße fressen sich Kühe still durch den Tag. Die Morgenarbeit ist getan, es gibt keinen Grund zu muhen. Längst haben die Rindviecher ihre Runde auf dem Melk-Karussell gedreht und die Tanks der Wagen gefüllt für deren Fahrt auf den Milchstraßen zu den Molkereien im Rheinland, in Ostfriesland und Holland.
Ich habe meinen Logenplatz gefunden: die menschliche Sonnenuhr an der Kreuzung Hofwiese/Packskamp in Hardinghausen. Es ist ein Ortsteil, von dem ich noch nichts gehört habe, auch Ekel, Holthausen und Overhagen waren mir bisher fremd – Kirchhellen, das immer noch unbekannte, gallische Dorf, das sich lange gegen die Zwangsheirat mit Bottrop wehrte und dann doch am 1. Juli 1976 Ja sagen musste. Dafür blieb uns Glabotki erspart. . .
Die Uhren der Bottroper Braut ticken anders
Die Uhren der Bottroper Braut ticken anders, hier sowieso, wo wir mit Schattenspielen unsere Zeit bestimmen. Ich sitze auf einem Felsbrocken. In meinem Rücken schützt die Hecke vor Wind und neugierigen Blicken auf das Anwesen. Ich schaue auf Wiesen, am Horizont auf folienverpackte Spargeldämme und dahinter, schon etwas verschwommen in unserer Bergbau-Glückauf-Erinnerung, auf das Fördergerüst von Prosper Schacht 10; es rostet seit 2018 einer ungewissen Zukunft entgegen. Zur linken Seite, weit weg, pustet das Kraftwerk Scholven jede Menge Dampf aus Türmen in den Himmel. Hier jedoch wirkt alles grün. Kirchhellen, eine Schatztruhe der Natur.
Vieles kennen wir Alt-Bottroper. Natürlich den Movie Park, den Hightech-Vergnügungspark mit Stuntshows und Halloween-Getöse. Natürlich die uralte Nachbarin, das stolze, aber beschauliche Schloss Beck mit meiner geliebten Marienkäferbahn, die seit Generationen auf Gleisen durch den Park kurvt. Und selbstverständlich sind wir dabei, wenn die Kirchhellener mit Knüppeln nach Brezeln werfen und die Bauern ihre Olympiade feiern.
Alles ist so überschaubar. Wir mögen den Ortskern mit dem Marktplatz, den kleinen Geschäften zum Gucken und Kaufen, mit der italienischen Eisdiele und den Bäckereien, die noch nach selbst gebackenen Brötchen duften. Wir kaufen geschälten Spargel im Hofladen, sammeln jedes Jahr aufs Neue Werttaler. Wir schunkeln im Grafenwälder Festzelt, verbeugen uns vor Berthold van Oepen alias Karnevalsprinz Paul Broneneschewski aus Pleskovice bei Sadcze; fantastisch seine Texte, seine Lieder, sein Mut, seine Kreativität.
Und sonst? Es gibt noch eine Menge zu entdecken, Menschen zu treffen, die sich was trauen, die ungewöhnliche Wege gehen; die ihr Kirchhellen lieben, die stolz auf ihr Dorf, ihre Heimat sind, zusammenhalten und gemeinsam viel bewegen. Auf der Sonnenuhr spiele ich als Schattenwerfer den Zeiger. Es ist 10 Uhr. Es wird Zeit für Abenteuer, es wird Zeit für meine Reise durch Kirchhellen.
Erst die Theorie – dann die Rückenschmerzen
Kleine Glücks-Momente. Es knarzt, es knarzt immer wieder. Ich liebe das Geräusch, weil es mir verrät, dass ich alles richtig mache. Im Verborgenen, 30 Zentimeter unter der Oberfläche des Hügels, bohrt sich mein Spargelmesser in die Stange, sticht sie ab. Jetzt brauche ich die Stange nur noch aus dem Sand herauszuziehen. Dann geht es zum nächsten Kopf, der so vorsichtig aus dem Damm lugt wie ein Erdmännchen aus seiner Höhle.
Stopp, alles von Anfang an. Erst die Theorie, dann die Praxis und die Rückenschmerzen. Und zum Schluss die Erkenntnis, dass es ein langer Weg ist von gescheiterten Stechversuchen bis zur Vorfreude, wenn Sauce Hollandaise verführerisch über Spargel, Kartoffeln und rohen Schinken fließt. Ich schaue hoch zu meinen Ausbildern Wilhelm und Justus Beckmann, 28 und 26 Jahre alt, zur nächsten Generation der Spargelbauer-Familie. Sie scheinen zufrieden zu sein mit dem Schreibtischtäter.
Dürfen sie auch, schließlich halte ich mich Punkt für Punkt an ihre Vorgaben: Damm kontrollieren, über die Folie streicheln, um herausragende Köpfe zu erfühlen. Folie an die Seite schieben, den Kopf freilegen, das Messer eine Handbreite entfernt von der Stange 30 Zentimeter etwas schräg im Sand versenken. Jetzt mit der Hebelwirkung das Messer in die Stange bohren und abstechen. In vier, fünf Tagen lässt die Wurzel neue Stangen nach oben wachsen . . . wenn, ja wenn ich daran denke, meine Bohrstelle zu reparieren und mit der Folie abzudecken, die für Wärme und Windschutz sorgt. Der Damm muss zehn Jahre halten, bevor die Erntehelfer zum nächsten Feld umziehen.
Weitere Folgen des Bottrop-Schreibers:
- Eine Liebeserklärung an unsere Stadt
- Zeitreise in die 50er Jahre – Teil I
- Zeitreise in die 50er Jahre – Teil II
Zehn bis 20 Kilo schaffen Experten in der Stunde. „Wir bewirtschaften 40 Hektar Spargel“, erklärt Justus, studierter Agrarwissenschaftlicher. Wilhelm, der Wirtschaftswissenschaft studierte, erzählt, dass seine Eltern Katrin und Markus früher vom Rind und von der Rindermast lebten. „Dann brachte Mama von einem anderen Hof die Idee mit, Spargel anzubauen.“ Seit 1992 setzt die Familie Beckmann erfolgreich auf das gesunde Gemüse.
Mittlerweile dauert die 5. Jahreszeit in Kirchhellen von Mitte März bis Ende Juni. „Dann ist die Kirsche rot, der Spargel tot“, sagt Justus. Sechs Tage in der Woche sind alle im Einsatz: Katrin und Markus, Wilhelm und Justus, ihre Frauen Laura und Maike, 70 Erntehelfer aus Polen. Seit Jahren halten sie den Beckmanns die Treue, wohnen über Produktionshalle, Hofladen und Café. Auf dem Rückweg zum Hof kommen wir an Blumenwiesen vorbei. Zum ersten Mal lädt das Unternehmen Narzissen, Dahlien, Pfingstrosen, Sonnenblumen, Gladiolen und Tulpen zum Selbstpflücken ein.
Zum Abschied gibt mir Justus ein Rezept: Spargelwraps mit Sauce Hollandaise, Schinken und Käse. Aber pst, das muss unser Geheimnis bleiben. Ich möchte meine Familie heute mit dem Leckerbissen überraschen.
30 Kilometer Folientunnel gehören zum Hof Umberg
Wer zum Hof Umberg will, der fährt am Fortschritt vorbei, staunt über die riesigen Felder mit Folientunneln; Reihe für Reihe sind es 30 Kilometer oder umgerechnet eine Strecke vom Overhagener Feld 10 bis nach Gelsenkirchen, die Jörg Umberg überdacht hat. Der Weg führt zum Hof, zu einem Platz, ein bisschen auch in die Vergangenheit zu einem Refugium der Ruhe, umgeben vom efeubewachsenen Bauernhaus, von Bäumen und Landmaschinen; es ist eine Idylle zum Wohlfühlen mit einem Herzstück – dem Hofladen; dekoriert mit nostalgischer Kasse, Milchkannen, Fässern und Heuballen.
Angeboten wird, was aus eigenem Anbau, aus der Region kommt. Obst, Gemüse, Wurst, Marmelade, Backwaren, Brände, Apfelsaft, Wein. . .
2000 haben der 52-jährige Jörg Umberg und seine drei Jahre jüngere Ehefrau Susanne, beide Agraringenieure, von Hansgeorg Umberg den Hof übernommen. Er befindet sich seit mehr als 850 Jahren im Familienbesitz, erstmals schriftlich erwähnt wurde der Betrieb „Uvenberge“ im Jahre 1163.
Jahrhunderte alte Tradition – verbunden mit Fortschritt
Eine Tradition, die verpflichtet, aber sich alleine heute nicht rechnet. Das Tunnelsystem, vor 20 Jahren erstmals eingesetzt, ermöglicht es, die Qualität zu steigern, neue Obst- und Gemüsearten anzubieten und den Service zu optimieren. Selbstpflücker ernten in den Folientunneln Erdbeeren kundenfreundlich aus Hochbeeten. In Spitzenzeiten beschäftigen Jörg und Susanne Umberg bis zu 150 Mitarbeiter. Sie kommen aus Polen und der ungarischen Minderheit in Rumänien, Kirgistan und der Ukraine. Vor vielen Jahren fand der Feldhausener Heimatforscher Hans Rottmann ein jahrhundertealtes Schriftstück, das die Vorfahren Umbergs unter Androhung „des ewigen Bannfluches“ ermahnte, Kirchensteuern zu zahlen. Zum 850-jährigen Bestehen des Hofes fragte der Chef aus Jux an, ob die Finanzbehörde dem treuen Kunden nicht für einen Monat Steuern erlassen könnte. Das Amt reagierte nicht.
An einer Bürowand hängen Bilder, sie zeigen die Entwicklung des Hofes. Wir sehen Ur-Großvater Johann und seine Frau Mechtildis an einem Pferdewagen, gezogen von einem Kaltblüter. Für die Zucht dieser Tiere wurde Großvater Josef mit Preisen ausgezeichnet. Wir erkennen Vater Hansgeorg Umberg im Hühnerstall, Sohn Jörg beim Beschneiden der Obstbäume. Die Wand wird nicht reichen, um alle Innovationen zu bebildern. Im Betrieb wird nichts so bleiben, wie es einmal war – und doch spüren wir den Charme des Hofes.
Meine Tour geht weiter. Zu Menschen, die etwas zu erzählen, die vieles erreicht haben. Die mich ausprobieren lassen, was sie tun, die mir vorleben, was sie lieben: ihre Arbeit und ihre Feste. Tradition und Fortschritt. Ihre Gemeinschaft und ihre Lebensfreude. Ihre Heimat. Kirchhellen.
>>Ausblick auf die nächste Folge
Heute und in seiner Mai-Reportage ist Bottrop-Schreiber Hermann Beckfeld unterwegs in Kirchhellen. Der Journalist versucht sich als Spargelstecher und Blumenpflücker bei der Familie Beckmann, besucht den Jahrhunderte alten Umberg-Hof, der für die Zukunft gerüstet ist.
Im Mai backt er eine Riesen-Brezel, füttert Kühe und Hühner. Dabei trifft Hermann Beckfeld Menschen in Kirchhellen, die vieles bewegen, Geschäftsmodelle verändern und die Tradition pflegen.
Der Bottrop-Schreiber bedankt sich für jede E-Mail und freut sich auch weiterhin auf Reaktionen und Tipps unter bottrop-schreiber@t-online.de