Bottrop. Parwin Adabyar ist aus Afghanistan geflohen, als die Taliban die Macht übernahmen. Mit Schrecken sieht sie, wie Frauen in der Heimat verstummen.

Sie hat gezögert vor dem Gespräch, ob sie ihren Namen nennt, ob sie ihr Gesicht zeigt. Aber dann war Parwin Adabyar klar, dass sie sich öffentlich positionieren will, um den Frauen in Afghanistan eine Stimme zu geben. Denn während sie in deutscher Sicherheit lebt und frei sprechen kann, sind die Frauen in ihrer Heimat verstummt.

Parwin Adabyar hat Wirtschaftswissenschaft studiert, hat sich viele Jahre lang für Gleichberechtigung eingesetzt. Zuletzt arbeitete sie in einem Projekt der Weltbank, das Frauen darin unterstützt, dass auch sie als Eigentümerinnen von Grundstücken beurkundet werden – nicht nur ihre Männer. Auf ihrem Fernseher zeigt sie Fotos, auf denen viele starke Frauen zusammenkommen, Direktorinnen, Chefinnen von Nicht-Regierungsorganisationen, die andere Frauen unterstützen. „Sie alle sind jetzt einfach zu Hause und können nicht arbeiten. Und das mit ihrem Potenzial“, sagt die 33-Jährige.

Taliban übernehmen Macht in Afghanistan: „Niemand hat das erwartet“

Wir treffen sie und ihren Mann in ihrer Wohnung im bürgerlichen Fuhlenbrock, drei Zimmer, Küche, Bad. Die Wände sind weiß und leer, die Möbel ein wenig durcheinandergewürfelt, auf dem hölzernen Wohnzimmerboden liegt eine Krabbeldecke für Sohn Altan. Er ist neun Monate alt, sein Name bedeutet Morgenröte. Am 18. November 2021 flohen Parwin Adabyar und ihr Mann Ahmad Tawakkoli mit nur einem Koffer aus Afghanistan.

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95 Tage zuvor sind sie rabiat aus ihrem alten Leben gerissen worden. Parwin Adabyar ist gerade bei der Bank, das Treiben auf den Straßen ist chaotisch, als die Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul einfallen. „Niemand hat das erwartet“, sagt Parwin. Schon gar nicht, dass die Taliban so schnell die Macht ergreifen würden. Sie selbst hat ihre persönlichen Sachen auf der Arbeit gelassen, ihren Laptop, ihre Notizen, denkt, sie würde am nächsten Tag ins Büro zurückkehren. Aber sie kehrt nie zurück.

Paar ist schockiert von der Flucht des afghanischen Präsidenten

Als nicht nur die ausländischen Soldaten, die Ortskräfte sofort zum Flughafen fliehen, sondern auch Präsident Ashraf Ghani das Land fluchtartig verlässt, war das Ehepaar schockiert. „Ich erwartete jeden Moment das Klopfen an der Tür, dass die Taliban uns holen“, sagt Ahmad Tawakkoli. Der heute 32-Jährige arbeitete für die Regierung, die, die Taliban soeben gestürzt hatten.

Seine Mutter rät, dass das Paar sofort fliehen soll, schnell zum Flughafen. Aber Ahmad Tawakkoli und Parwin Adabyar bleiben. Zu groß ist die Angst, dass die schwangere Parwin von den Massen am Flughafen zerdrückt werden könnte. Bei Tumulten lassen zahlreiche Menschen ihr Leben.

Parwin Adabyar zeigt Bilder eines Vortrags, den sie in Afghanistan gehalten hat. Die Frauen, die damals dabei waren, dürfen heute nicht arbeiten, nicht alleine reisen.
Parwin Adabyar zeigt Bilder eines Vortrags, den sie in Afghanistan gehalten hat. Die Frauen, die damals dabei waren, dürfen heute nicht arbeiten, nicht alleine reisen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Und so kümmert sich Ahmad zunächst um eine Aufnahme-Erklärung der Bundesregierung, bekommt für sich und seine Frau ein Visum. Sie verlassen ihr Land am 18. November nach Pakistan, mit nur einem Koffer, damit die Ausrede, sie suchten dort medizinische Behandlung, nicht auffliegt.

Sohn wird in Bottrop geboren: „Er ist Deutscher“

Nach zwei Wochen fliegen sie mit einer Charter-Maschine nach Leipzig, kommen nach Viersen in die zentrale Unterbringungseinrichtung, weiter in die Gemeinschaftseinrichtung an der Tannenstraße in Bottrop, bis sie mit Hilfe eines älteren Ehepaares ihre Wohnung im Fuhlenbrock finden.

Altan wird in Bottrop geboren. „Er ist Deutscher“, sagt sein Vater und lächelt dem kecken Buben zu. Der 32-Jährige sprach schon vor der Flucht ein wenig Deutsch, hat im vergangenen Jahr gelernt, fast fließend zu sprechen. Seine Frau kann wegen des Babys keinen Kurs besuchen. Er übersetzt für sie.

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Sie sind glücklich, in Deutschland zu sein, dankbar für all die Hilfe, die sie erfahren haben. Und gleichzeitig schmerzt es sie, ihre Familie zurückgelassen zu haben, das Gefühl zu haben, nicht genug für sie tun zu können, sorgen sie sich um ihre Mütter, Schwestern, Brüder, die weiter in Afghanistan leben. Und um die Zukunft ihres Landes.

„Wir wollen, dass man nicht vergisst: Es ist nicht besser geworden“

„Seit 540 Tagen sind die Schulen für Mädchen und die Universitäten für Frauen geschlossen“, sagt Ahmad Tawakkoli. „Die Taliban sind alle aus den Dörfern, sie haben Angst vor gebildeten Frauen, die argumentieren können.“ Was macht das mit einer Nation, wenn über Jahre nur ein Geschlecht sich bilden kann, wenn Frauen sich nicht frei bewegen dürfen?

„Wir wollen, dass man nicht vergisst: Es ist nicht besser geworden“, sagt Parwin Adabyar. Während die Taliban sich zu Beginn noch als fortschrittlicher gerierten als bei ihrer letzten Machtergreifung vor über 20 Jahren, schränkten sie kurz darauf das Leben aller Mädchen und Frauen weiter ein. All die Gelder, all die Mühen, all die Entwicklungen der vergangenen Jahre – sie sind alle zunichte gemacht worden, sagt Ahmad Tawakkoli verbittert. „Wir sind wieder am Nullpunkt.“