Bottrop/Duisburg. „Sofia, der Krieg hat begonnen“ – mit diesem Satz wurde die 17-Jährige am 24. Februar 2022 geweckt. Hier erzählt sie ihre Fluchtgeschichte.
Sofia Kalitska absolviert derzeit ein Praktikum in der Lokalredaktion Bottrop der WAZ. Sie ist vor knapp einem Jahr aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet und lebt mit ihrer Mutter in Duisburg. Wir haben sie gebeten, ihre persönliche Geschichte aufzuschreiben.
Mein Name ist Sofia. Ich bin eine von mehr als einer Million Ukrainern in Deutschland, die ihre Heimat wegen des Krieges verlassen haben. Seit fast einem Jahr lebe ich in Duisburg bei einer netten deutschen Familie, die mich und meine Mutter aufgenommen hat.
Mein Leben änderte sich dramatisch am 24. Februar um 5 Uhr morgens. Ich wurde durch eine laute Explosion und einen Anruf meines Freundes geweckt: „Sofia, der Krieg hat begonnen!“ Panik, Tränen , zitternde Hände und die Frage, ob du morgen überleben wirst – das waren die Gefühle, die jeder Ukrainer an diesem Morgen empfand.
Russischer Angriff auf die Ukraine: Die erste Kriegswoche im Keller
Die erste Kriegswoche übernachteten wir im Keller. Es gab sehr wenige Produkte in den Geschäften, mit kilometerlangen Warteschlangen, um zumindest ein Stück Brot zu kaufen. Meine Stadt Kiew war von allen Seiten umzingelt, so dass meine Mutter und ich zunächst nicht ausreisen konnten. Zwei Wochen später konnten wir die Stadt verlassen.
Im Glauben, dass der Krieg nicht bald enden wird und wir nicht nach Hause zurückkehren können, haben wir uns entscheiden, die Ukraine zu verlassen. Angst und Ungewissheit haben uns umhüllt. Dank der starken Unterstützung der ganzen Welt fühlten wir uns nicht allein. Wir sind nach Deutschland gegangen, weil ich im Internet eine deutsche Familie kenngelernt habe, mit der wir noch heute leben. Ich habe nicht genug Worte, um zu beschreiben, wie dankbar wir diesen Menschen sind.
Wir sind von Kiew mit dem Zug nach Breslau gefahren, wo uns eine polnische Familie aufgenommen hat. Sie nahmen uns mit solcher Liebe auf, dass meine Mutter weinen musste. Am nächsten Morgen ging es mit dem Zug weiter nach Deutschland und einen Tag später waren wir in Duisburg.
„Die erste Woche in Deutschland fühlte ich mich schrecklich“
Die erste Woche in Deutschland fühlte ich mich schrecklich, ich war krank und ich hatte einen starken Wunsch, nach Hause zu gehen. Ich konnte überhaupt kein Deutsch, obwohl ich in der ukrainischen Schule Deutschunterricht hatte, aber ich hatte entschieden, dass ich es im Leben nicht brauchte und daher nicht gelernt.
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Gott sei Dank konnte ich Englisch, was mein Leben ein wenig einfacher machte. Um ehrlich zu sein, meiner Seele ging es nicht gut, alles schien so fremd. Nur die Flaggen der Ukraine, die in ganz Deutschland hingen, wärmten die Seele. Das Sozialamt gab den Bedürftigen alles, was sie benötigen. Aber es war nicht so perfekt wie gewünscht.
Wir hatten sehr viele Probleme mit den Dokumenten und der deutschen Bürokratie. Besonderes viel Stress gab es bei der Ausstellung einer Aufenthaltskarte. Das Duisburger Amt für Migration hat uns versprochen, dass die Dokumente in drei Monaten fertig sein werden. Waren sie aber nicht. Erst nach fünf Monaten erhielten wir unsere Aufenthaltstitel.
„Manche Leute denken, wenn man Ukrainer ist, ist man arm und unglücklich“
Trotzdem sage ich als Ukrainerin, dass niemand eine solche Hilfe von Deutschland erwarten konnte. Es ist so angenehm zu fühlen, dass die Menschen deine Trauer verstehen und aufrichtig unterstützen wollen. Manchmal fühlt es sich so an, als würdest du in den Menschen nichts als Mitleid auslösen. Es ist ein schreckliches Gefühl, dann manche Leute denken, wenn man Ukrainer ist, ist man arm und unglücklich. Ja, wir wurden unserer Heimat beraubt, aber wir werden niemals den Stolz auf unser Land und unsere Würde verlieren.
Anfang Juni ging ich endlich zur Schule. Glücklichweise kam ich in die ukrainische Klasse , wo alle meine Klassenkameraden meine Muttersprache sprechen. Hier habe ich angefangen, Deutsch zu lernen. Neben der Schule habe ich mir die Sprache selbst beigebracht: Ich habe Fernsehserien auf Deutsch geschaut, Bücher gelesen, mit Muttersprachlern kommuniziert. Ich kann sagen: Es hat funktioniert!
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Und dann stand ich vor einem neuen Problem: Meine aktuelle Klasse für mich wurde zu einfach. Mit dem Schulleiter habe ich entschieden, dass ich mich in einer deutschen Klasse mit wirtschaftlicher Ausrichtung versuchen sollte. Anfangs hatte ich große Angst, weil mir klar wurde , dass Lehrer und Schüller nur Deutsch sprechen würden, und auch die Wirtschaft selbst ist ein schweres Fach.
„Der Krieg hat mich gelehrt, heute zu leben“
Der erste Monat in der neuen Klasse war schrecklich, ich wusste nicht immer, was mir gesagt wurde, und ich hatte Angst, selbst zu antworten. Mit der Zeit begann ich mich daran zu gewöhnen und gegen meine Unsicherheiten zu kämpfen. Die ersten Klausuren waren sehr stressig für mich, ich habe den ganzen Tag Wirtschaftswissenschaften gelernt. Das Glück ist auf meiner Seite, also habe ich alle Prüfungen perfekt geschrieben. Jetzt weiß ich, wie richtig es war, in die Deutschklasse zu wechseln. Diese Entscheidung hat mir viele Möglichkeiten gegeben. Das Wichtigste ist, dass ich mir meinen Traum erfüllen kann – mich im Journalismus auszuprobieren.
Warum möchte ich Journalistin werden? Es gibt nichts Interessanteres, als Informationen zu sammeln und dann mit anderen zu teilen. Schon in der Ukraine war mir klar , dass ich Journalistin werden würde. Daher ist die Erfahrung in der Redaktion für mich sehr wichtig und wertvoll.
Im Moment habe ich nur ein Ziel – an einer Universität zu studieren. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was mich in Zukunft erwartet und wo ich sein kann. Der Krieg hat mich gelehrt, heute zu leben.