Bottrop. Dr. Elisabeth Borgmann sorgt sich um die körperlichen und psychischen Folgen des Lockdowns. Das beobachtet sie in ihrer Bottroper Praxis.
Nach einem Jahr Corona-Pandemie machen sich die Mediziner in der Bottroper Kinderarztpraxis von Dr. Elisabeth Borgmann, Thomas Herber und Dr. Diana Grabner große Sorgen um die Folgen des Lockdowns für den Nachwuchs. In vielerlei Hinsicht beobachten sie, wie die Entwicklung, wie die Seele unter den coronabedingten Beschränkungen leidet. Dr. Elisabeth Borgmann ist der Überzeugung: „Das allerletzte, was passieren darf, ist, dass die Schulen und Kitas wieder zumachen!“ Da müssten andere Lösungen her.
„Viele der Therapien für die Kinder laufen nicht oder nur eingeschränkt“, sagt Borgmann zum Beispiel mit Blick auf Physio-, Ergo oder Sprachtherapie. Als Folge beobachten die Mediziner: „Viele Kinder machen keine guten Fortschritte. Gerade bei Kindern, die eine Sprachtherapie erhalten, merken wir deutlich, dass sie auch nicht wie gewohnt zur Schule gehen.“ Vor allem bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen und Migrationshintergrund bemerke sie, dass deren Deutsch wieder schlechter geworden sei.
Dass das Homeschooling grundsätzlich zu einer hohen psychosozialen Belastung für alle Familien führt, kann Borgmann nur bestätigen. „Die Eltern sind jetzt oft aufgelöst.“ Oftmals seien sie es aus Vor-Coronazeiten gewohnt, dass ihr Nachwuchs vom Kleinkindalter an betreut werde, inklusive Mittagessen und Hausaufgaben. Auf die Situation jetzt seien sie nicht vorbereitet, fühlten sich bei allen Bemühungen in Kombination mit ihrer Berufstätigkeit oftmals überfordert. „Manche sagen: Ich habe Angst, dass mir die Hand ausrutscht.“
Kinder wiederum erzählen der Ärztin, dass sie es (im teils beengten) zu Hause viel schlechter schaffen, sich zu konzentrieren. Und unter den Geschwistern gibt es mehr Streit.
Ängste können auch organische Folgen haben
Ängste sind zudem ein großes Thema. „Gerade die Kleineren brauchen dringend den Kindergarten.“ Und mit ihm Gleichaltrige zur Entwicklung ihrer Sozialkompetenzen. Borgmann bemerkt bei den Kindern teils, dass sie entwöhnt sind im Umgang mit anderen, ängstlicher, können nachts nicht einschlafen. „Das ist deutlich ausgeprägter als in früheren Jahren.“ Grundschulkinder wiederum sorgten sich um die Gesundheit von Großeltern und Eltern. Allen fehlt der Kontakt zu Altersgenossen. „Die Teens leiden unter dem Eingesperrtsein, sie können nicht frei werden.“ Vieles findet an PC oder Handy statt, inklusive Daddeln.
Das alles hat zum einen organische Folgen: „Rücken- und Kopfschmerzen sehen wir jetzt deutlich mehr. Es gibt auch deutlich mehr Kinder mit diffusen psychosomatischen Beschwerden wie Bauchschmerzen.“ Dazu Handekzeme aufgrund geradezu zwanghafter Handhygiene. Borgmann und ihre Kollegen beobachten zudem „eine ganz erhebliche Zunahme von Übergewicht, das ist eine Katastrophe.“ Wenig Bewegung, essen aus Langeweile, naschen vor dem TV – da seien schnell mehr als ein, zwei Kilos plus auf der Waage, mit entsprechenden Folgeproblemen für die Gesundheit. Und sollten Familien aus Sorge vor einer Ansteckung den Arzt-Besuch meiden, könnten auch schwere chronische Krankheiten zu lange unentdeckt bleiben.
Dazu kommen die psychischen Folgen. „Es gibt viele Kinder, die brauchen mit ihren Eltern eine Begleitung und Unterstützung“, sagt Borgmann, die wie ihre Kollegin Dr. Diana Grabner eine Weiterbildung in psychosomatischer Grundversorgung hat. „Manchmal reicht es, dass man zuhört und das Verständnis weckt, dass ein Kind mit seinen Problemen und Sorgen nicht alleine ist.“ Andere bräuchten, häufiger als zu Nicht-Corona-Zeiten, spezielle Therapien. „Es wird einzelne Fälle geben, die in so einer Situation in eine Angst- oder Zwangsstörung rutschen, die sich chronifiziert.“
Rund fünf Prozent der getesteten Kinder sind corona-positiv
Die gute Nachricht: Borgmann und ihre Kollegen haben in ihrer Praxis in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht, dass Kinder mit einer Covid-19-Infektion in der Regel nicht schwer erkranken: „Die Kinder haben fast gar nichts“, so die Ärztin. In der Praxis sei viel getestet worden. „Pro Woche führen wir zurzeit 10 bis 15 Tests durch“, jeweils Anlass bezogen. Also entweder aufgrund von Symptomen oder Kontakt zu Infizierten. In den ersten drei Märzwochen seien rund 50 Tests durchgeführt worden, darunter befanden sich drei Kinder mit einem positiven Ergebnis. Insgesamt lag der Prozentsatz der positiv getesteten Kinder in der Praxis bis Mitte März bei circa fünf Prozent.
Dabei waren die infizierten Kinder zwischen zwei Wochen und 17 Jahren alt. „Die Ältesten sind auch die Krankesten, die Säuglinge haben fast nichts.“ Die Ärztin ergänzt: „Wir hatten auch schon die britische und die südafrikanische Variante in der Praxis; diese Kinder sind nicht mehr krank als die anderen.“
Natürlich gibt es auch bei den Jüngsten Vorerkrankungen, die das Risiko erhöhen. Dazu zählen laut Borgmann Mukoviszidose, die meist die Lunge betrifft, Herzfehler, Behinderungen, Epilepsie, Diabetes. „Gut eingestelltes Asthma ist offenkundig nach aktuellen Studien gar nicht so sehr ein Problem“, erklärt Borgmann. Es komme insgesamt selten vor, dass Kinder mit einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus behandelt werden müssten, auch die Sterblichkeit sei gering. „Das haben die Eltern zu einem ganz großen Teil verstanden.“
Auf Dauer findet sie auch die Impfung der Jüngsten gegen Corona wichtig. „Nur so bekommen wir auch eine vernünftige Durchimpfungsrate hin.“ Als vordringlicher sieht sie aber die Immunisierung der Risikogruppen und von Lehrern sowie Erziehern, „damit sie vernünftig arbeiten können“.
Patientenaufkommen ist zurückgegangen
Seit Beginn der Corona-Krise ist das Patientenaufkommen in der kinder- und jugendärztlichen Gemeinschaftspraxis an der Hochstraße deutlich zurückgegangen, berichtet Dr. Elisabeth Borgmann. Noch im ersten Quartal geht sie von einem Rückgang um etwa 20 Prozentaus.
Im Winter behandeln die Ärzte normalerweise oft deutlich über 100 Patienten am Tag, „jetzt hatten wir im Schnitt 50 bis 60 Kinder“. Fehlen würden die jungen Patienten mit akuten, banalen Infekten.„Impfungen, Vorsorge und die Betreuung chronisch kranker Kinder läuft inzwischen weitgehend normal“, so Borgmann. Von Anfang an sei die Praxis zweigeteilt worden, es gibt Extra-Räume für Infekt-Kinder. Auf der anderen Seite sei der Zeitaufwand für Gespräche mit verunsicherten, besorgten Eltern doppelt so hoch wie vor Corona.