Bottrop. Maria Schlossarek ist 108 Jahre alt. Die Bottroperin hat alle politischen Systeme erlebt. „Heute haben wir das beste, was wir kriegen konnten.“
Ihre ganz persönliche Bitte an alle jüngeren Leute: „Auf jeden Fall kein Nazi werden!“ Das sagt Maria Schlossarek im Brustton der Überzeugung. Aus dem Mund der mit 108 Jahren ältesten Bottroperin, und damit einer der ältesten Bürgerinnen von NRW, klingt das ebenso bewegend wie beeindruckend. Das hat so gar nichts von erhobenem Zeigefinger oder der Attitüde älterer Leute, die alles besser wissen.
Zeitzeugin des Ruhrgebiets
Die 1912 in Gelsenkirchen geborene Frau ist eine Zeitzeugin des Ruhrgebiets. Sie hat das alte vor Kohle und Russ starrende Revier erlebt. Sie hat aber auch harte Landarbeit auf einem Gut in Westpreußen kennengelernt, wohin ihre Eltern mit der damals fünfjährigen Tochter und den vielen anderen Geschwistern gegen Ende des Ersten Weltkriegs auswandern. Später, im Zweiten Weltkrieg, ist sie als junge Frau noch einmal dort, arbeitet hart – und verliert noch im März 1945 ihren Ehemann Emil Brix in dem von den Nazis angezettelten großen Krieg, der ein großes Sterben war und Europa in Trümmer schlägt.
Er ist Panzergrenadier, wird schwer verletzt und stirbt kurz vor Kriegsende ganz in der Nähe, auf dem Schmücker-Hof in Kirchhellen, wo er gepflegt wird, aber dann doch seinen Verletzungen erliegt.
Maria Schlossarek steht dann alleine da mit drei Kindern. Von Westpreußen ist sie damals zu Fuß zurück ins Ruhrgebiet gelaufen. „Was die Braunen alles angerichtet haben, so etwas darf nie mehr passieren.“
„So etwas wie 1933 darf nie mehr passieren“
„Ich habe erlebt, wie ein Mann in den 1930er Jahren zu mir sagte ,Heben sie die Hand hoch’!, erinnert sich Maria Schlossarek. Sie kam damals gerade aus einem Bäckerladen und hatte ein Brot unter dem Arm. „Für wen oder warum?“, habe sie gefragt. „Mach das, sonst schmier’ ich dir eine“, habe der Kerl zu ihr gesagt, weil sie den Hitlergruß nicht zeigt. Vermeintlich eine Kleinigkeit. Aber dass so etwas überhaupt einmal möglich oder sogar normal war, hat die immer noch rüstige und kommunikative alte Dame bis heute geprägt.
Den Euro bezeichnet sie als ihre dritte Inflation
Auch wenn sie die Einführung des Euro vor fast 20 Jahren als „die dritte Inflation“ beschreibt, die sie erlebt habe: „Das System, das wir heute in Deutschland haben, ist das beste, was uns allen passieren konnte.“ Immerhin regierte noch der Kaiser, als sie mit sechs Jahren in die Volksschule kommt. Dann ist da der große Hunger am Kriegsende, die Unruhen, als sich Linke und Rechte vor 100 Jahren im Ruhrgebiet bekämpfen. Kurz darauf erleben sie und vor allem ihre Eltern die erste Geldentwertung. Aber die Familie hat Arbeit. Viele sind im Bergbau. Später auch ihre beiden Söhne.
Einer zieht Mitte der 1960er nach Bottrop. Und da passiert es: „Er hat mich mit meinem späteren zweiten Mann förmlich verkuppelt“, sagt Elisabeth Schlossarek, die zu dem Zeitpunkt noch Brix heißt. Es funkt tatsächlich. „Ich war dort öfter zuhause, wir haben zusammen ferngesehen – und das war dann wie die Verlobung, die Zeiten waren ja ganz anders als heute“, schmunzelt die alte Dame, während sie ihre wasserblauen Augen fest auf ihre Gesprächspartner richtet. Im Foyer der Rottmannsmühle, wo sie seit Oktober lebt, sind zahlreiche Gäste versammelt, die mit ihr auf den 108. Geburtstag anstoßen wollen.
Zwischendurch kommen zwei ehemalige Nachbarinnen aus Welheim mit dickem Blumenstrauß an den Tisch. Sie kennt Maria Schlossarek erst seit 50 Jahren. „Also noch nicht mal die Hälfte meines Lebens!, sagt sie und lacht schon wieder. Bis zum vergangenen Jahr lebt Maria Schlossarek noch allein in einer altengerechten Wohnung im Speckenbruch in der Welheimer Mark. Aber irgendwann kommen doch Wehwehchen oder ein Krankenhausaufenthalt. Da sei es besser, wenn Profis in der Nähe sind. Aber auf die Familie ist Verlass. Vor allem auch auf Enkel Frank Brix, der inzwischen in Bottrop wohnt und immer ein Auge auf seine tolle Oma hat.
Ihr Rezept zum Altwerden: Keine Medikamente, keine Zigaretten und ab zu ein gutes Gläschen
Gibt es ein Rezept für ein so langes Leben? Maria Schlossarek nahm selten Medikamente, hat nie geraucht, gönnt sich aber zu bestimmten Anlässen auch mal ein Gläschen. Wichtig ist vor allem: Sich wenig Sorgen zu machen, Ruhe bewahren und dann natürlich die vielen Besuche ihrer Familie. Beim Blick zurück sieht die 108-Jährige vor allem die technischen Neuerungen. „Das fängt schon beim Fahrstuhl oder einer bequemen Autofahrt an.“ Das Leben sei einfach besser und leichter geworden als vor einem Jahrhundert. „Man sollte diese Möglichkeiten richtig zu nutzen wissen.“ Aber das hat sie vor Jahren schon ihren Nachgeborenen geraten.
Zum Festtag in der Rottmannsmühle gratulieren übrigens Tochter, Schwiegertochter, sechs Enkel, neuen Urenkel und sechs Ururenkel.