Ruhrgebiet. Vor einem Jahr wurde im Revier das letzte Stück deutsche Steinkohle gefördert. Zwei Steiger über ihren Pütt und die „Queen Mary“ an der Emscher.

Neulich noch hat Jörg Laftsidis zu seinem Sohn gesagt: „Dein Vater war Steiger, davon gibt’s nicht mehr viele!“ Und nun gehört der 53-Jährige schon wieder zu einer „aussterbenden Gattung“, wie er es nennt: der der Gästeführer auf den Steinkohlenzechen des Ruhrgebiets, die noch aus eigener Anschauung erzählen können, wie es war unter Tage. Damals, bevor der Bergbau dicht machte: Ein Jahr ist das jetzt her.

Bei der Stiftung Industriedenkmalpflege haben sie es sofort gewusst: „Der ist eine Perle, den brauchen wir unbedingt für unsere Sammlung.“ Jörg Laftsidis, diesen Bergmann aus Bochum, der „stolz ist auf die Kumpelkultur“, wie Geschäftsführerin Ursula Mehrfeld sagt. Den Markscheider von Prosper Haniel, der am letzten Tag des Ruhrgebiets-Bergbaus dabei war, als sie das allerletzte Stück Kohle aus 1200 Meter Tiefe holten. Der bittere Tränen vergoss, als er ein letztes Mal aus dem Förderkorb stieg an jenem 21. Dezember, der auch sein letzter Arbeitstag war. Danach ist Laftsidis nach Hause gegangen, wie die Bergleute sagen, wenn es in Rente geht.

Zeche Nachtigall: Das Steigerlied mit der Ukulele

Oder auch nicht. „Ich stehe jetzt nicht mehr um vier auf, sondern um sechs.“ Die Knappschaft, der Sport, der Polizeichor, in dem er der einzige Bergmann ist. Die SPD, für die er in den Rat einziehen will in Hamme und Hordel. Und die Führungen auf Consol in Gelsenkirchen, wo der junge Jörg einst angefangen hat, wie zuvor sein Vater. „Mein Pütt“, sagt er. „Der steht für was“, hat Ursula Mehrfeld gleich erkannt, dieser Kumpel könne mit Freude vermitteln.

Wie sein Kollege Michael Kaiser aus Lünen, der auf so vielen Zechen war, dass er bei Nummer fünf schon den Überblick verliert, und der nun auf Wittens Zeche Nachtigall Besucher führt. Und das Steigerlied singt mit der Ukulele. Wie der Ruhrpott überhaupt entstand, erzählt er den Leuten: „Hätten wir die Kohle nicht gehabt“, gar nicht. „Harte Zeiten, aber auch superschöne Zeiten.“ Es läuft ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken.

Sein letzter Arbeitstag: Reviersteiger Jörg Laftsidis am 21. Dezember 2018 in der Schwarzkaue von Schacht 10, Prosper Haniel.
Sein letzter Arbeitstag: Reviersteiger Jörg Laftsidis am 21. Dezember 2018 in der Schwarzkaue von Schacht 10, Prosper Haniel. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann


Sie können beide reden und haben viel zu sagen, nur über den 21. Dezember 2018 sprechen sie nicht mehr so gern. „Ein Einschnitt“, sagt Kaiser, „ergreifend.“ Ein „Trauertag“ war das für ihn, als Schicht am Schacht war in Bottrop und damit in Deutschland. Positiver ausgedrückt: „Ein denkwürdiger Tag, hömma!“ Kollege Laftsidis, der damals schon wusste, dass er „Geschichte live“ mitmacht, muss zurückdenken an seinen Vater. „Dass er den Tag nicht mehr erlebt hat. Der hätte sich gefreut zu sehen: Dass du noch dahinterstehst!“ Hinter der deutschen Steinkohle, die keiner mehr haben wollte. Oder wenigstens: nicht bezahlen.

Aber ein Jahr danach „fragt man sich, ob das die richtige Entscheidung war“. Sie haben sich das auch damals schon gefragt. Wird nicht die heimische nun durch ausländische Kohle ersetzt? Ist das etwa klimafreundlich? Und wenn in 25 Jahren jemand käme, der sagte, wir brauchen wieder Kohle, „dann haste die Leute nicht mehr“, sagt Jörg Laftsidis. Leute wie ihn, den Reviersteiger in zweiter und letzter Generation: „Ein Pütt ist ja keine Pommesbude, die man heute zu- und morgen wieder aufmachen kann.“

„Wir haben tolle Unis hier, aber wir brauchen auch Indianer“

Allerdings fehlt ihnen auch der Glaube, dass die Region ohne die Kohle kann. Jedenfalls, so richtig gut: Es fehlen schließlich die Jobs! „Da, wo der Pütt war, was ist denn da heute?“, fragt Laftsidis: „Start-ups, viele neue Arbeitsplätze, aber keine Zigtausend, das weiß ich.“ Es gebe aber nun mal Leute, „die wollen mit ihrer Hände Arbeit Geld verdienen, einfach malochen“. In Kaisers Familie waren sie sieben Geschwister, „da konnte keiner studieren. Wir haben tolle Unis hier, aber wir brauchen auch Indianer.“


Michael Kaiser meint sogar, „wir wurden hier vergessen“. Nichts gegen den Osten, „der musste aufgebaut werden, aber das Ruhrgebiet bleibt auf der Strecke“. Die Solidarität gehöre auch hierhin. Solidarität, wie es sie unter Tage gab. Wo „Integration ein Fremdwort“ war. „Mehmet, Egon, Gustav, Ahmet, egal“, erinnert sich Kaiser, „bei uns gab es keinen Rassismus.“ Zur Not hieß der Ali eben „Fritz“ vor der Kohle, weil das einfacher war. Und hinten hieß jeder „Arsch“, der ein guter Kumpel war: „Ein Ritterschlag.“

So war es unter Tage: „Schwarz, warm und scheiße“

Trotzdem, „wir sind nicht so“, sagt Laftsidis, „dass wir den ganzen Tag an der Emscher stehen und darauf warten, dass die Queen Mary II anlegt“. Man habe sich immer verändert im Ruhrgebiet und etwas dafür getan. Die Bergleute seien geblieben, „was wir immer waren: leistungsbereit, hilfsbereit, zuverlässig.“ Und: „Hart im Nehmen“.

Ein Borusse und ein Schalker: Auch das funktionierte unter Tage.
Ein Borusse und ein Schalker: Auch das funktionierte unter Tage. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND


Vielleicht ist das ein Teil der Romantik, die den Bergbau im Rückblick umschwebt. „Die kann ruhig erhalten bleiben“, findet Jörg Laftsidis, „aber es war auch Knochenarbeit.“ Es war „gar nicht romantisch“, sagt dagegen Michael Kaiser. Er mag die Nostalgie, „das ist alles lustig, aber im Streb war es bitterernst“. Ewald in Herten zum Beispiel, „das war schwarz und warm und scheiße“. Bergbau, bestätigt sein Kumpel, „heißt auch eine rote Blutspur bis in die 90er-Jahre“. Und eigentlich auch bis zum bitteren Ende: Am Tag vor dem Abschied vom Bergbau starb in Ibbenbüren ein junger Bergmann. „Das hat allen nochmal gezeigt, wie gefährlich der Job war.“

Und über Tage: „Ruhrgebiet der drei Farben“, hat Kaiser immer gesagt. „Grau, hellgrau, dunkelgrau. Also gar keine Farben.“ Heute sind sie längst wieder da, dafür sind die Zechen weg. Geblieben ist von so ziemlich jeder eine eigene Facebookgruppe und für die Ehemaligen immer noch das Deputat: sieben Tonnen Kohle, in Geld umgerechnet. „Kohle“, also die schwarze, „gibt’s ja nicht mehr“.

Steiger kann seinen Pütt nicht wiederfinden

Und die letzten Kollegen sind nun auch bald weg. Zu Jahresbeginn wird Prosper Haniel, die letzte Zeche, wirklich dicht sein, im doppelten Sinne. Die Türen abgeschlossen, die Schächte zugeschüttet. „In zehn Jahren ist das grüne Wiese“, ahnt Jörg Laftsidis. Michael Kaiser hat kürzlich in Ahlen einen seiner vielen alten Pütts gesucht, er hat ihn nicht gefunden. „Da ist nichts mehr. Dass alles platt ist, hat man sich niemals vorstellen können.“


INFO: DER ABSCHIED VOM BERGBAU


Das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus war politisch lange beschlossene Sache. Die heimische Kohle, auf der letzten Zeche Prosper Haniel in Bottrop in 1200 Meter Tiefe abgebaut, war zu teuer geworden.


Am 21. Dezember 2018 holten Bergleute symbolisch den letzten Kohlebrocken aus der Erde und übergaben ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Im Sommer brachte eine Abordnung das Stück nach Berlin, wo es jetzt im Schloss Bellevue liegt. Von dort aus soll es irgendwann ins Haus der Geschichte in Bonn ziehen.