Bottrop. . In seiner Dissertation stellt Historiker René Hoffmann eine kühne These auf. War die Verleihung der Stadtrechte ein Kompensationsgeschäft?

Zwischen Gemeindeverwaltung und Landratsamt kam es nach dem Sturm und der Befreiung des Bottroper Rathauses zu einer peinlichen Auseinandersetzung um die beschämende Verantwortungsflucht der beiden Verwaltungschefs Brinkmann und Schmitz. Sie hatten vor dem Rathaussturm das Weite gesucht und sich nach Essen geflüchtet.

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Der Streit mündete in ein behördliches Kompensationsgeschäft. Bemühungen der Gemeinde zur Erlangung der Stadtrechte waren bisher gescheitert, an den von der Regierung zur Ablehnung angeführten Gegebenheiten hatte sich wenig geändert. Nun aber hatte zynischerweise der gewaltsame Tod der 15 erschlagenen Männer auf dem Rathausplatz indirekt einen überraschenden Durchbruch zur Folge, den sich auch noch ausgerechnet die im Moment der Bewährung geflohene Verwaltungsspitze als Erfolg ans Revers heften durfte.

Verteidiger im Stich gelassen

Die Sicherheitskräfte waren unter Gefahr in Verzug von ihren verantwortlichen Behördenspitzen im Stich gelassen worden. Nach der blutigen Katastrophe schoben sich Gemeinde- und Landratsamtsspitze gegenseitig die Schuld zu. Zur Verantwortung gezogen wurde letztlich niemand.

Als dann am 21. Juli 1919 der Gemeinde die Stadtrechte verliehen wurden, haftete dem Ganzen ausgerechnet jetzt ein allzu deutlicher Ludergeruch an. Es lässt sich, wie bei den meisten innerbehördlichen Absprachen zu gegenseitigem Nutzen, nichts „gerichtsverwertbar“ beweisen, aber: Bisherige Bottroper Bemühungen waren mit schlüssigen Begründungen abgewiesen worden, es gab keine neuen Gesichtspunkte, die eine Revision hätten rechtfertigen können; das so offensichtliche Versagen der Gemeindeführung in schwerer Krisenlage hätte sogar ein gefährliches neues Gegenargument darstellen können. Allerdings hatte das Landratsamt ebenso offensichtlich wie schändlich versagt.

Ein Mantel des Schweigens

Über so viel ungesühntes Versagen wollte man so schnell wie möglich den Mantel des Schweigens decken. So haftete an der Verleihung der Stadtrechte der Ruch eines Kompensationsgeschäftes, um über der zutiefst beschämenden Verantwortungsflucht vom Februar so schnell wie möglich den Deckel schließen zu können. Die „Stadt“ Bottrop musste damit letztlich ein nicht wirklich gewolltes Kind der Revolution sein.

Größte Trauerfeier der Stadt

Die Ermordeten vom Rathausplatz wurden nach der am 25. Februar 1919 stattgefundenen, größten öffentlichen Trauerfeier der Bottroper Stadtgeschichte über dem politischen Ablasshandel der für die Tragödie maßgeblich verantwortlichen Behördenvertreter selbst in ihrem Heimatort dem Vergessen anheim gegeben. Die Toten waren als Gefallene — auch das, streng genommen, eine Lüge - auf dem Westfriedhof auf dem für die in Heimaterde bestatteten Gefallenen des Weltkrieges bereitgestellten Gräberfeld beigesetzt worden. Schicksal und grausige Todesumstände der Opfer des Rathausmassakers hinterließen aber offenbar keine größere Gewissensnot in den Schreibstuben, denn selbst aus ihrer Fürsorgeverantwortung für die Hinterbliebenen der Ermordeten stahl sich die zwischenzeitlich zur Stadt avancierte Kommune schon wenig später noch heraus.

Verrat auch an den Hinterbliebenen

Nachdem die Gemeinde beschlossen hatte, den Hinterbliebenen eine angemessene Versorgung zu gewähren, wähnte sich die junge Stadt schon vier Jahre später an die Zusagen nicht mehr gebunden. Sie verwies kühl auf das Tumultschadengesetz. Auch mit diesem Wortbruch kam man wieder davon, bis in die 1950-er Jahre kämpfte eine der Witwen vor den Verwaltungsgerichten erfolglos dagegen.

Halbherziges Bekenntnis

Nachdem das öffentliche Bekenntnis, den „in treuester Pflichterfüllung“ Ermordeten „ein dauerndes, ehrendes Andenken“ zu bewahren, somit als eher halbherzig gesehen werden kann, wurden die Toten dann zunächst in den Jahren der NS-Herrschaft im Rahmen regimetypischer Totenfeiern propagandistisch instrumentalisiert. In den 1950er-Jahren, im Zeichen des Kalten Krieges, wurde ihrer, die sie nun „für die Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung“ ihr Leben hingegeben hatten, seitens der Stadt durch jährliche Kranzniederlegungen gedacht.

OB Wilczok lud 1959 die letzten Angehörigen ein

Anlässlich der fünfzigsten Wiederkehr des Datums im Februar 1969 legte Oberbürgermeister Ernst Wilczok in etwas größerem Rahmen am Ehrenmal auf dem Westfriedhof einen Kranz nieder, und lud dazu auch die letzten noch lebenden Angehörigen ein von August Balthasar, Alfred Böhm, Werner Ehlers, Paul Freitag, August Huck, Friedrich Hundt, Carl Jandt, Karl Jona, August Kamps, Heinrich Keienburg, Josef Moschner, Emil Pletz, Ignatz Thelen, Hermann Werner und Hermann Winter, die man noch einmal als „Verteidiger demokratischer Freiheit“ bezeichnete. Von den meisten Chronisten wurden die Opfer des Bottroper Rathausmassakers verschwiegen, marginalisiert oder übersehen, und schließlich wurden sie auch in ihrer Heimatstadt faktisch vollständig vergessen,