Bochum. Hoch hinaus geht es bei der Baustellenbesichtigung an der Viktoriastraße, und zwar auf den rund 80 Meter hohen Turm der Marienkirche, der seit einigen Wochen komplett eingerüstet ist. Die Sanierung der 150 Jahre alten Fassade bereitet den Steinmetzen jede Menge Arbeit.

Huh, ist das hoch! – Der Außenaufzug an der eingerüsteten Marienkirche fährt nicht gerade schnell, aber das macht die Reise auf fast 80 Meter Höhe nicht weniger spannend. Im Gegenteil. Zweieinhalb Minuten braucht der offene Lift bis nach ganz oben. Zeit, um das Panorama auf sich wirken zu lassen.

Die Männer unten auf dem Bauplatz des Musikzentrums werden kleiner und kleiner, die Laster sehen mehr und mehr wie Matchbox-Autos aus, und die Häuser schrumpfen auf Modellbahn-Format. Schließlich tut sich, kurz bevor der Aufzug rumpelnd auf der 77-Meter-Etage anhält, der Blick ins Weite auf: Bis nach Gelsenkirchen-Scholven kann man sehen, auf der anderen Seite steht der Fernsehturm „Florian“ als schmale Nadel am Dortmunder Horizont.

Gerüst mit Ausblick

Werner Paetzke hat die Reise in luftige Höhen mehrfach gemacht, und er hat sich inzwischen die Begeisterung über die Aussicht etwas abgewöhnt. Einen anderen Ausblick findet er nämlich viel spannender, denn Paetzke ist Steinmetzmeister und als solcher für die Sanierung des Turms zuständig. Und dieser Turm besteht aus abertausend Backsteinen, die 1870 geschichtet und verfugt wurden, um das Wunder Marienkirche wachsen zu lassen.

Für ein „Wunder“ hält der weit gereiste Steinmetz die Innenstadtkirche auf jeden Fall: „Das ist schon ‘ne Nummer hier“, sagt er anerkennend. Und meint damit nicht nur die Aufgabe, die auf ihn und seine Leute wartet, sondern das Gebäude selbst. „So eine super Qualität der handwerklichen Arbeit, das ist Wahnsinn!“, sagt er unverhohlen.

Kirchturmspitze als Zielscheibe

Der Spitzhelm der 1868-1872 errichteten, neogotischen Backstein-Kirche St. Marien ist 75 bis 80 Meter hoch, je nach dem, von wo man misst. Die Kirche wird saniert, weil sie Teil des Musikzentrums sein wird, das im Herbst 2015 eröffnen soll.

Eines der „Lieblingsstücke“ des Steinmetzmeisters Werner Paetzke ist die Kreuzblume, jenes Bauglied, das die Kirchturmspitze krönt. Sie besteht aus zentnerschweren Segmenten, die einzeln ausgebessert, wieder zusammengebaut und zurück auf die Spitze gesetzt werden.

Die Schäden an der Kreuzblume sind übrigens allein dem Verfall und der Witterung geschuldet. Paetzke kennt auch andere Ursachen: „Sie glauben gar nicht, wie oft wir auf solchen Kirchturmspitzen Einschusslöcher finden.“ Es gibt Leute, Hobbyschützen, die Kreuzblumen, Wetterhähne oder Zierkugeln als Zielscheibe zweckentfremden.

Seit zwei Wochen ist der Turm eingerüstet, jeder Winkel musste vom Gerüst erfasst werden, weil jetzt überall an der fast 150 Jahre alten Fassade gewerkelt wird. Die meiste Arbeit entfällt auf die Neu-Verfugung. Der historische Fugenputz wird komplett herausgenommen und ersetzt. „Das ist eine unglaubliche Arbeit“, sagt Paetzke, „alles Handarbeit“. Aug’ in Aug’ mit dem Gemäuer, wird die Dimension deutlich. Ziegel, Ziegel, Ziegel, wohin der Blick auch fällt. Wieviele? Paetzke zuckt nur die Achseln.

Die Fugen sind nicht die einzige Baustelle hier oben. Der Steinmetz zeigt auf die düstere Patina, die überall zu sehen ist. Das ist das Erbe des Industriezeitalters, das ist der Schmodder und Schmutz, den der Auswurf der Zechen, Stahlwerke und Fabriken aufs Ruhrgebiet niedergehen ließ, und den nicht mal Persil sauber waschen könnte.

Der Schmodder der frühen Jahre

Denn der Kohlebrand hat die einst rötlich-hell schimmernden Ziegelsteine in dunkelschwarzrote verwandelt hat. Das wird auch so bleiben, denn die komplette Fassade sandzustrahlen, kommt nicht infrage: „Das kann keiner bezahlen“, sagt Paetzke. Gleichwohl wird überall gereinigt, gehämmert, ausgebessert; hier wäre ein Sandsteinabbruch in einem Kapitell zu ersetzen, dort ein Stück Gesims, und da eines aus den vier Wasserspeiern.

Nach dem Besichtigungs-Rundgang über die Etagen des Gerüstes, die durch ein solides „Treppenhaus“ aus Metall verbunden sind, geht es zurück zum Lift. Ratternd setzt er sich in Bewegung, es geht abwärts. Die Bauarbeiter-„Ameisen“ werden groß und größer, auch die Matchbox-Autos sind auf einmal wieder richtig dicke Baustellenlaster. Nach zweieinhalb Minuten hat die Erde uns wieder.

Eine Mitfahrerin auf den Turm hält zwei Blüten Sommerflieder in der Hand. Wo kommen die denn her? Na, von oben! Tatsächlich sprießt überall auf der Marienkirche das Grün, halbe Bäume haben Paetzkes Männer beim Aufräumen schon herausgebrochen.