Bochum. Mitten bei der Fahrt durch die Langzeitbaustelle auf dem Nordhausenring trafen herunterstürzende Asphaltbrocken eines Baggers das Auto von Svenja Katharina Reiners. Doch keiner der Baggerfahrer will es gewesen sein. Nun droht die 33-Jährige auf über 760 Euro Selbstbeteiligung sitzenzubleiben.
9. Oktober 2013, 10.42 Uhr. Mit dem geleasten Renault Scenic ihres Lebensgefährten Axel Hulin (43) ist Svenja Katharina Reiners auf dem Nordhausenring in Richtung Gerthe unterwegs. Der Verkehr wird dort einspurig an der Langzeitbaustelle vorbeigeführt. Die Eppendorferin fährt vorschriftsgemäß 40 km/h. Ihr Glück. Denn was Sekunden später passiert, macht sie bis heute fassungslos.
Selbstbeteiligung eingefordert
Kurz vor der Abfahrt Langendreer, so schildert die Lehramtsstudentin, gerät auf der Baustelle, wenige Meter neben ihrem Auto, ein Bagger mit der Schaufel in den Fahrbahnbereich. Mehrere dicke Asphaltbrocken krachen auf die Windschutzscheibe und Motorhaube ihres Wagens. „Vor lauter Panik habe ich die Kontrolle über das Auto verloren. Nur mit Mühe bin ich wieder auf die Spur gekommen. Anhalten konnte ich nicht. Es gibt dort ja keinen Standstreifen.“
Am Castroper Hellweg ruft Svenja Katharina Reiners die Polizei. Sie bleibt geschockt im Wagen sitzen. Eine Beamtin fährt zur Baustelle. Nach 30 Minuten kehrt die Polizistin zurück. Ohne Ergebnis. Zwar sind zwei Bagger auf der Baustelle im Einsatz. „Doch die Baggerführer wollen nichts bemerkt haben. Alle gaben sich gegenüber der Polizei ahnungs- und schuldlos. Jeder verwies auf den anderen.“
Das setzt sich im anschließenden Schriftverkehr fort:
– Straßen NRW als Bauträger „bedauert, dass hier keine Stellung genommen werden“ könne.
– „Der Schaden wurde durch einen Subunternehmer verursacht“, lehnt Wolff & Müller (Holzwickede) als Generalunternehmen jegliche Haftung ab.
– „Eine Schadensverursachung ist nicht erkennbar“, weist die Firma Send (Castrop-Rauxel) als eines der Subunternehmen „die Ansprüche als unbegründet“ zurück.
– Man habe zum Unfallzeitpunkt lediglich einen Bagger mit Stemmhammer im Einsatz gehabt, wäscht auch die Firma BHR (Würselen) als zweites Subunternehmen ihre Hände in Unschuld.
„Unfassbar: An dem Vorgang gibt es keinen Zweifel. Doch keiner will es gewesen sein!“, grollt Svenja Katharina Reiners. Zwar muss sie die Reparatur der Beulen und Schrammen (Schaden laut Dekra-Gutachten: 2622 Euro) nicht selbst bezahlen. Die Selbstbeteiligung in Höhe von 762,22 Euro hat die Leasingfirma aber bereits eingefordert.
Svenja Katharina Reiners bleiben Ratlosigkeit und Wut – und die Gewissheit, zumindest Glück im Unglück gehabt zu haben.
Straßen NRW weist Verantwortung zurück
Nicht nur die beteiligten Baufirmen, sondern auch Straßen NRW als Bauträger weisen jegliche Verantwortung für den Unfall zurück.
„Zwar gibt es eine Bauherren-Haftpflicht“, erklärt Regionalleiter Michael Gebert auf WAZ-Anfrage. „Die greift aber nur in Fällen, in denen wir als Bauherr nachweislich nicht richtig gearbeitet haben. Die Verkehrssicherungspflicht obliegt den beauftragten Firmen. Für deren Fehlverhalten ist Straßen NRW nicht verantwortlich zu machen. So gut ich den Ärger der Autofahrerin verstehen kann: Eine ,Staatshaftung’ gibt es nicht.“
"Wie und wo der Schaden entstanden ist, steht zweifelsfrei fest."
Gebert zieht einen Vergleich: „Wenn ich als Privatperson ein Umzugsunternehmen beauftragte und einer der Umzugsfahrer bei einem Unfall einen Schaden verursacht, kann ich als Auftraggeber dafür ja nicht haftbar gemacht werden.“
Svenja Katharina Reiners will sich damit nicht abfinden. Sie hat den Bochumer Rechtsanwalt Arno Hilgenstock eingeschaltet. Der spricht gegenüber der WAZ von einer „außergewöhnlichen Problematik. Wie und wo der Schaden entstanden ist, steht zweifelsfrei fest. Aber alle heben die Hände. Niemand will es gewesen sein.“
Scheide mangels Beweisen ein Anspruch gegen die beteiligten Baufirmen aus, werde er „einen Direktanspruch gegen Straßen NRW als zuständige Behörde prüfen. Notfalls auch auf dem Klageweg“.