Herne/Bochum. Geschichte nicht nur lernen, sondern erleben: Zeitzeugen aus Bochum berichten in Herner Schulen über ihre Erlebnisse im 2. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Jetzt wollen die geschichtsbewussten Senioren auch Bochumer Schulen besuchen.
Es schellt. Die Zehntklässler der Erich-Fried-Gesamtschule strömen in die Mensa. In einer Ecke stehen zwei uniformierte Puppen mit Stahlhelm auf dem Kopf. Melina, Thea und Muriel setzen sich an einen Tisch in der Ecke. Sie kramen den Notizblock aus der Tasche, suchen die vorbereiteten Fragen an die Zeitzeugen. Antworten: darum geht es in Herne – und möglichst bald auch in Bochum.
Schulministerin Löhrmann hat es in diesen Tagen vorgegeben: Schüler sollen Geschichte erleben statt nur zu pauken. Horst Spieckermann (72) fühlt sich diesem Ziel seit fünf Jahren verpflichtet. Viermal im Jahr organisiert er Besuche von zehn bis zwölf Zeitzeugen an Herner Schulen. Frauen und Männer, die den 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit erlebt und durchlitten haben, stehen zum Gespräch mit den Schülern bereit. In Altenheimen, Kirchen und Parteien hat Spieckermann die Zeitzeugen gefunden. Das sei nicht einfach gewesen. „Die meisten Menschen könnten viel erzählen, wollen aber nicht reden. Dabei muss Geschichte doch lebendig bleiben!“
Das Ghetto von Minsk überlebt
Es sind auch Zeitzeugen aus Bochum, die regelmäßig an Herner Schulen zu Gast sind. Der gebürtige Weißrusse Felix Lipski (75), der als Jude das Ghetto von Minsk überlebte; der Gerther Junge Wilhelm Birkemeyer (85), der über seine russische Kriegsgefangenschaft ein Buch geschrieben hat; Sophie Barth (75), die mit ihrer Familie vor den Bomben ins Siegerland flüchtete; Gerd Uhle (81), Inhaber des Hannibal-Zentrums, der im Nazi-Deutschland und in der Sowjetunion zwei Diktaturen ertragen musste: Sie wollen berichten. Erinnern. Mahnen. Aufzeigen, wie wertvoll Demokratie und Freiheit sind, die jüngeren Menschen allzu oft selbstverständlich erscheinen.
Angebot an Bochumer Schulen
Horst Spieckermann besucht mit seinen Zeitzeugen gern auch Bochumer Schulen. „Jetzt gibt es noch die Chance, diese Menschen in den Geschichtsunterricht einzubinden. Schon in einigen Jahren wird das nicht mehr möglich sein.“
Interessierte Lehrer wenden sich an Horst Spieckermann unter 0 23 23/6 08 84.
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, in so einer Zeit zu leben“, sagt Thea (16) in der Erich-Fried-Gesamtschule. „Waren da alle in der Hitlerjugend?“ Am Tisch in der Ecke sitzt jetzt Kieferchirurg Rolf Hinz. Der 86-Jährige erzählt, wie er eine jüdische Nachbarin in den Luftschutzkeller zog, kurz bevor eine Bombe einschlug. Erzählt von den Tagen nach dem Krieg. Russische Soldaten wollten ihn festnehmen. Der lettische Ehemann der jüdischen Nachbarin versuchte zu vermitteln. „Er wollte sagen, dass ich einen Leistenbruch habe. Nur fiel ihm das russische Wort nicht ein. Er hat denen dann gesagt, dass ich kaputte Eier habe“, sagt Rolf Hinz mit schelmischem Grinsen.
Gerne würden die Zeitzeugen auch in Bochumer Schulen diskutieren (siehe Info-Kasten). „Wir sind bereit“, appelliert Gerd Uhle. „Die Lehrer sollten diese Chance nutzen, so lange wir noch da sind.“