Bochum. .

Anselm Weber ist seit einem guten Vierteljahr Intendant am Schauspielhaus Bochum. Langsam aber sicher füllt sich der Spielplan. Zeit für eine Rückschau auf die wichtigsten Inszennierungen in Kurzform.

Ein gutes Vierteljahr der ersten Intendanz von Anselm Weber ist ‘rum, und langsam aber sicher füllt sich nach einer wahren Premierenflut der Spielplan des Schauspielhauses. Was wurde geboten? Wie war’s? Die WAZ fasst die wichtigsten Inszenierungen in Kurzform zusammen – zum Nachlesen oder zum Neugierigmachen, je nachdem. Eine subjektiv benotete, gleichwohl repräsentative Auswahl.

Mit „Die Lapdakiden“ verschmilzt Roger Vonthobel vier Dramen aus der Antike zu einer Familien-Polit-Saga. Foto: Declair
Mit „Die Lapdakiden“ verschmilzt Roger Vonthobel vier Dramen aus der Antike zu einer Familien-Polit-Saga. Foto: Declair

Eleganz... ( 1 -)

Gintersdorfer/Klaßen lassen zwei deutsche Schauspieler und zwei Tänzer von der Elfenbeinküste in einer durchgeknallten Performance den Überfluss von Show, Machismo, Globalisierungsverrat, Protz und Angeberei beschwören. Heftiges, physisches Tanztheater mit Rap-Einflüssen. Wer Experimentelles liebt, ist hier richtig, für Theater-Konservative eher schwierig.

Die Labdakiden (1-)

Roger Vonthobel verschmilzt vier Dramen aus der Antike zu einer Familien-Polit-Saga. Mit Paul Herwig hat er einen Darsteller, der als Ödipus das gravitätische Zentrum dieser intensiven Inszenierung bildet. Die hängt, den schwächeren Vorlagen geschuldet, in der Mitte leicht durch, doch ist es insgesamt eine kluge, sauber strukturierte und treffend aktualisierte Interpretation der griechischen Tragödien. Ein großer Abend.

Jim Knopf (2+)

Hübsch-launiges Theater für Kinder und Erwachsene. Katja Lauken eignet sich den bekannten Stoff so kongenial an, dass es eine Freude ist. Besonderen Eindruck machen die wunderschön kostümierten Chinesen und der erst böse, dann liebenswerte Drache Frau Malzahn. Am Ende stimmt die Bühnenschar mit dem Publikum das Lummerland-Lied an. Schwungvoll, musikalisch, schön!

Premieren im Schauspielhaus

"Eleganz ist kein Verbrechen" wurde am Schauspielhaus uraufgeführt. Der Abend ist eine durchgeknallte Performance mit Rap-Einflüssen. Für Freunde des Experimentellen unbedingt zu empfehlen. Regie führte Monika Gintersdorfer. Foto: Arno Declair
Seit dem 9. Oktober stehen
Seit dem 9. Oktober stehen "Die Labdakiden", inszeniert von Roger Vontobel, auf dem Spielplan des Bochumer Schauspielhauses. Vier Dramen aus der Antike verschmelzen zu einer Familie-Polit-Saga. Foto: Arno Declair
Die Geschichte von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, ein Theaterstück für Kinder ab 6 Jahren, feierte am 14. November Premiere. Ein schwungvoll musikalisches Erlebnis. Foto: Diana Küster
Die Geschichte von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, ein Theaterstück für Kinder ab 6 Jahren, feierte am 14. November Premiere. Ein schwungvoll musikalisches Erlebnis. Foto: Diana Küster
Hausregisseur David Bösch inzenierte
Hausregisseur David Bösch inzenierte "Der Sturm" von William Shakespeare. Der Abend hat durchaus Längen, was aber durch die tolle Leistung der Schauspieler wieder herausgerissen wird. Foto: Arno Declair
"Irgendwo" ist ein etwas zu oberflächlich geratenes Tanztheaterstück von Malou Airaudo. Uraufführung war am 24. September. © WAZ FotoPool
Paul Koeks Inszenierung
Paul Koeks Inszenierung "Candide oder der Optimismus" ist ein durch und durch gelungenes Experiment. Der Regisseur lässt das Ensemble mächtig tanzen. Foto: Thomas Aurin © Thomas Aurin
Eine neue Version der
Eine neue Version der "Medea" erzählte der tunesische Regisseur Fadhel Jaibi gemeinsam mit der Autorin Jalila Baccar. Premiere war am 8. Oktober. Foto: Thomas Aurin
"Transit" ist eine Koproduktion mit dem Schauspiel Essen. Anselm Webers Inszenierung bleibt sehr ernsthaft. Auch wenn Witz und Risiko fehlen, überzeugen dei Schauspieler auch hier. Die nächste Vorstellung ist am 23. Januar um 19 Uhr. Foto: Thomas Aurin © Thomas Aurin
Roger Vontobel lässt sein Ensemble
Roger Vontobel lässt sein Ensemble "Peer Gynt" bis zum bitteren Ende lustvoll ausspielen. Am Ende sieht die Bühne aus wie ein Schlachtfeld.
In dieser Koproduktion mit dem Schauspiel Essen inszeniert Sebastian Nübling
In dieser Koproduktion mit dem Schauspiel Essen inszeniert Sebastian Nübling "Ubu" mit einem Ensemble aus Essen und Amsterdam. Gespielt wird auf deutsch, niederländisch, englisch – und in der Sprache Ubus.
"Hochstapeln", das neue Stück von Regisseur Jan Neumann, entstand erst während der Probenarbeit. Premiere war im Theater Unten am 2. Dezember.
Die Familiensaga
Die Familiensaga "Eisenstein" ist gleichzeitig eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Anselm Weber führte Regie. Das unterkühlte Spiel lässt keine Emotionalität entstehen. Foto: Arno Declair
In 3:15 Stunden fasst der türkische Regisseur Mahir Günsiray Faust 1&2 zusammen. Von der Story bleibt dabei leider nicht mehr viel übrig.  Foto: Thomas Aurin
In 3:15 Stunden fasst der türkische Regisseur Mahir Günsiray Faust 1&2 zusammen. Von der Story bleibt dabei leider nicht mehr viel übrig. Foto: Thomas Aurin
"Oft ist die Natur nicht einmal schön" - ein musikalischer Abend über den Klimawandel von Christoph Frick und Bo Wiget. Foto: Diana Küster
Was Jugendliche aus dem Ruhrgebiet umtreibt, wovon sie träumen, wovor sie Angst haben, erfährt man in
Was Jugendliche aus dem Ruhrgebiet umtreibt, wovon sie träumen, wovor sie Angst haben, erfährt man in "Next Generation". Die künstlerischen Ergebnisse dieses Projekts hat David Calis zu einer modernen Collage verdichtet.
"Honigherz" ist ein Theaterstück ohne viele Worte, dafür aber mit Musik, für Kinder ab 2 Jahre. Foto: Diana Küster
Menschen, die den Kontakt zu ihren Mitmenschen abbrechen, nennt man Hikikomori. Das gleichnamige Stück in der dichten, beklemmenden Inszenierung von Martina van Boxten richtet sich an junge Zuschauer ab 13 Jahren.
Menschen, die den Kontakt zu ihren Mitmenschen abbrechen, nennt man Hikikomori. Das gleichnamige Stück in der dichten, beklemmenden Inszenierung von Martina van Boxten richtet sich an junge Zuschauer ab 13 Jahren. © WAZ
Der Konzertabend
Der Konzertabend "Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand", inszeniert von David Bösch, bietet Jugendlichen viel Stoff, sich mit den Protagonisten zu identifizieren.
Am 29. September stellte Dries Verhoeven seinen Live Streaming Container vor dem Schauspielhaus Bochum vor. Foto : Monika Kirsch
Am 29. September stellte Dries Verhoeven seinen Live Streaming Container vor dem Schauspielhaus Bochum vor. Foto : Monika Kirsch © WAZ
Wenn auch manche Entscheidungen der Regisseurin Lisa Nielebock wenig plausibel erscheinen, hält
Wenn auch manche Entscheidungen der Regisseurin Lisa Nielebock wenig plausibel erscheinen, hält "Nathan der Weise" doch über die gesamte Spieldauer von zwei Stunden hinweg die Spannung. Foto: Birgit Hupfeld
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Irgendwo (3-)

Irgendwo begegnen sich fünf Breakdancer und vier zeitgenössische Tänzerinnen. Sie erschaffen Hindernisse, um sie zu überwinden, erbauen Höhen, um sie zu erklimmen, erfinden Wege, um sie zu erkunden. Zwischen HipHop und Walzer entspinnt sich ein mal flotter, mal zäher Bilderreigen mit staunenswerten akrobatischen Einlagen der jugendlichen Street-Artisten. Dennoch: zu viel Oberfläche, zu wenig Tiefe.

Der Sturm (3+)

David Bösch zerschnipselt Shakespeares gewaltiges Drama so lange, bis nur noch der Luftgeist Ariel und der missgebildete Caliban überbleiben. Nicola Mastroberardino und Florian Lange sind in diesen beiden Rollen die Säulen dieser von Bildern und Effekten überbordenden Inszenierung. Die ist streckenweise nett, aber am Ende nicht packend genug. Ein Abend mit Längen, aber mit tollen Schauspielern.

Der Auftakt zur Spielzeit und Intendanz wurde vom genialischen Holländer Paul Koek und seiner Musikertruppe mit Voltaires Candide bestritten. Foto: Aurin
Der Auftakt zur Spielzeit und Intendanz wurde vom genialischen Holländer Paul Koek und seiner Musikertruppe mit Voltaires Candide bestritten. Foto: Aurin © Thomas Aurin

Candide (2)

Der Auftakt zur Spielzeit und Intendanz wurde vom genialischen Holländer Paul Koek und seiner Musikertruppe bestritten. Er bringt Voltaires Candide als dynamisches, bilderreiches Musiktheater auf die Bühne, lässt das Ensemble mächtig tanzen. Das wirkt manchmal maniriert, bemüht und sperrig, ist aber gleichzeitig ein faszinierendes Panoptikum der menschlichen Verfasstheit in der Moderne. Experiment gelungen.

Medea (2+)

Der tunesische Regisseur Fadhel Jaibi übersetzt das antike Drama im Stil eines Tatort-Krimis in die Gegenwart. Jason ist ein im Ruhrgebiet lebender Grieche, Medea seine anatolische Ehefrau. Das ergibt zwei schöne Bühnenstunden, auch wenn die Inszenierung der Tiefe des Stoffes nicht gerecht wird. Großartig ist die minimalistische Bühne, großartig ist Nadja Robiné als Medea.

Transit (3)

Reto Fingers Adaption von Anna Seghers’ Exilanten-Roman: Anselm Weber fächert die ernste Geschichte ernsthaft auf, Spielraum für Brechungen, Lakonik, gar Witz lässt er kaum zu. So entwickelt sich in einer so trostlosen wie faszinierenden Kulisse des Untergangs ein ästhetisch interessanter, doch risikoloser Abend. Aber auch hier gilt: ganz große Schauspieler!

Bei der Inszenierung von Peer Gynt waten die Schauspieler in Strömen von Farben, und am Ende sieht die Bühne aus wie ein Schlachtfeld.
Bei der Inszenierung von Peer Gynt waten die Schauspieler in Strömen von Farben, und am Ende sieht die Bühne aus wie ein Schlachtfeld.

Peer Gynt (1)

Schockierend, lärmend, und doch von zärtlicher Innerlichkeit beseelt: Florian Lange ist in der Titelrolle eine Schau! Ibsens bekanntes Sinnsucher-Drama wird in der Inszenierung von Roger Vontobel lustvoll bis zum bitteren Ende ausgespielt. Die Schauspieler waten in Strömen von Farben, und am Ende sieht die Bühne aus wie ein Schlachtfeld. Also genau wie Peer Gynts gebeutelte Seele. Großartig!

Nathan (3+)

Regisseurin Lisa Nielebock nimmt Lessings großen Text sehr ernst, arbeitet sorgfältig an Sprache und Figuren und verzichtet auf überflüssige Effekte. Eindringliches Theater, gleichwohl scheint mancher Griff in die Regiekiste wenig plausibel. Trotzdem hält der Abend die Spannung über zwei Stunden.

Eisenstein (3)

Eine deutsche Familiengeschichte, erzählt von 1945 bis heute, von Christoph Nußbaumeder speziell für Bochum geschrieben. Die Suche nach Erlösung aus verwickelten Familienbanden dauert bei Anselm Weber 3,5 Stunden (zu) lang. Das Ensemble – u.a. mit Dietmar Bär und Maja Beckmann – überzeugt durch beinahe unterkühltes Spiel. Ein emotionales Drama, aber die Emotionalität der Figuren bleibt unterbelichtet.

Faust: Eine rätselhafte Inszenierung, aus der man unschlüssig nach Hause geht. Foto: Aurin
Faust: Eine rätselhafte Inszenierung, aus der man unschlüssig nach Hause geht. Foto: Aurin

Faust ( 4 +)

Der türkische Regisseur Mahir Günsiray fasst Goethes Faust 1 in 3:15 Stunden zusammen, was nur gelingt, indem er den gewaltigen Stoff in kleine und kleinste Partikel zertrümmert und diese mosaikhaft wieder zusammensetzt. So bleibt von der Story eigentlich nichts übrig, schon gar kein Heilsversprechen. In düsterer Kulisse verachtfacht sich Mephistopheles, treiben die Teufel mit dem taumelnden, suchenden Faust ihr Spiel. Eine rätselhafte Inszenierung, aus der man unschlüssig nach Hause geht.

Next Generation (ohne Wertung)

Was treibt Jugendliche von heute, die nächste Generation des Ruhrgebiets, um? Wovon träumen sie? Was mögen sie? Was erwarten sie? Das waren konkrete Fragen, die im Projekt Next Generation gestellt wurden. Regisseur Nuran David Calis hat die künstlerischen Ergebnisse dieser Zukunfslabore zu einer authentischen Bühnen-Collage verdichtet. Die Ruhrpott-Jugendlichen spielen sich selbst, und das mit Leidenschaft. Ein trubeliger, lauter Abend mit Street Dance, Rap und einer satten Portion Coolness.

Hikikomori (2)

Menschen, die den Kontakt zu ihren Mitmenschen komplett abbrechen, nennt man Hikikomori – ein Phänomen, das in Japan bis zu einer Million junger Leute betrifft. Krankheit oder Protest gegen die verqueren Erwartungen der Gesellschaft? Martina van Boxens dichte, beklemmende Inszenierung des Stücks von Holger Schober für das Junge Schauspielhaus gibt darauf keine Antwort. Weil es vielleicht gar keine mehr gibt.