Bochum.

Der türkische Regisseur Mahir Günsiray inszeniert am Bochumer Schauspielhaus seine eigenwillige Auffassung von Goethes „Faust“ – und vermengt den ersten mit der Tragödie zweitem Teil. Eine Mischung, die bunt, expressiv und intellektuell ist.

Er rettet ihn nicht. Am Ende, wenn der blinde alte Mann Faust ins Grab gesunken ist und der Teufel sich schon die Hände reibt, tauchen keine erotischen Himmelsbuben auf, um den Bösen abzulenken. Es tönt auch keine Stimme, dass erlöst wird, wer immer strebend sich bemüht; der Tote steht ganz einfach auf und geht raus, man meint, ihn leise pfeifen zu hören. Ja, was denn? Ist das unser Faust?

Nein. In einer atemraubend neuen Deutung hat der türkische Regisseur Mahir Günsiray den deutschesten aller deutschen Klassiker gekappt und verdichtet; hat Teil I und II sanft vermengt und: Gott gestrichen. Er kommt nicht vor, also kann er Faust auch nicht retten; Gott, der bei Goethe immerhin der Anstifter der Geschichte ist und im Prolog im Himmel eine Wette mit dem Bösen abschließt. Das denkt die Geschichte weiter, man merkt es aber nicht gleich.

Denn es gibt ja noch den Pakt zwischen Mephisto und Faust: Folgt der Mann dem Teufel, gehört er ihm. Das erklärt die Geschichte bis zum Ende des ersten Teils, und mehr wollen wir gar nicht wissen. Faust II mit seinen fantastisch ausufernden Geschichten aus der Antike und Himmels-Chören am Ende gilt als unspielbar und ist es in seiner philosophischen Fülle auch; wir aber hatten Faust I lieb, den Grübler und tiefen Menschen. Und jetzt kommt ein türkischer Regisseur, macht aus der Ergriffenheit in der Osternacht schlichten Sinneswandel und lässt einen Satz weg, der uns heilig war. „Sie ist gerichtet!“ sagt Mephisto über die Kindsmörderin Gretchen, die sich von Faust nicht befreien lässt. „Ist gerettet!“ heißt es darauf bei Goethe; bei Günsiray nicht. Und man ahnt: Es wird auch kein ewig Weibliches Faust hinan ziehen.

Es gibt kein Entrinnen

Das Spiel ist bunt, expressiv und intellektuell; und es rollt überwältigend schräg an. Auf der Bühne hockt eine Horde wild kostümierter Typen. Artisten? Eine Kaue? Auerbachs Keller? Oder die Walpurgisnacht? Welche? Es ist von allem ein bisschen und zugleich die Hölle; ein ganzer schriller Chor von Mephisto-Teufeln macht sich an Faust heran, einzeln werden sie zu Wagner, Gretchen, Hexe, Helena. Der Teufel ist kein solitärer Dämon, der Teufel, das sind die anderen.

Und sie sind hinreißend. Therese Dörr, Bettina Engelhardt, Florian Lange, Marco Massafra, Roland Riebeling, Nadja Robiné, Werner Strenger, Nicola Thomas: Sie stöckeln und fauchen, girren, kichern, prügeln, saufen Rotwein aus Flaschen. Einer hinkt! Und überhaupt fängt es damit an, dass hinter der Bühne männliches Stöhnen sich mit weiblichem paart; erst spät kommt hinten Faust aus der Deckung und spricht sein „Habe nun, ach“. Da johlen die Teufel und haben ihren Spaß an dem Dummlack, doch Andreas Grothgar gibt dem Faust Würde und schlichtes Pathos.

Günsiray erzählt linear; der Türmer aus Faust II (Klaus Weiss) ist gleich anfangs ein stiller Gegenspieler des rastlosen Faust, sonst geht es meist der Reihe nach. Dabei ist nicht jedes Bild innovativ; Gretchen blutbespritzt: ja, sicher. Das hatten wir schon. Faust mit nacktem Hintern auch. Aber wenn alle die Teufel in weißen Brautkleidern das Gretchen tanzen: Das ist gespenstisch gut.

Dämme und Deiche

Die neue Sicht eröffnet sich am Ende. Wenn bunt, schön und ziemlich Goethe-treu alles erzählt und gezeigt ist, der unschuldige Homunculus (Xe-nia Snagowski), die klassisch schöne Helena und ihr übermütig untergehender Sohn Euphorion: Dann erscheint Faust als kraftvoll machtbesessener, ruhmsuchender Gestalter, baut Dämme und Deiche, eine neue Welt. Und der kann sich am Ende nur selbst erlösen: durch Tätigkeit. Der Teufel aber steht ratlos böse an der Rampe und knurrt: „Ich liebte mir dafür das ewig Leere.“

  • Termine: 8., 16., 26., 30. Dezember. Info, Tickets: 0234/33 33 55 55