Bochum. In der NRW-Statistik zu Schutzmaßnahmen für Minderjährige fällt Bochum durch einen enormen Anstieg von Inobhutnahmen auf. Was dahinter steckt.
Wer einen Blick in die landesweite Statistik zu Kinderschutzmaßnahmen wirft, bleibt unweigerlich bei den Daten für Bochum hängen: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die hier vom Jugendamt in Obhut genommen wurden, hat sich binnen eines Jahres von 384 auf 1238 mehr als verdreifacht.
Der Blick aufs Detail liefert eine Erklärung für den massiven Anstieg: 1136, also mehr als 90 Prozent der Inobhutnahmen im vergangenen Jahr, betrafen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die allermeisten von ihnen im Alter von 14 bis 17 Jahren und männlich. Jugendliche, die ohne Eltern aus dem Ausland in NRW einreisen, werden zentral von Bochum aus auf Kommunen im Land verteilt.
Die Zahlen, die das Landesamt für Statistik, IT.NRW, in dieser Woche veröffentlicht hat, sie weisen Bochum also mitnichten als Stadt der gefährdeten Kinder aus, wie man zunächst fürchten könnte. Aber sie zeigen, welche Aufgabe die Stadt mit ihrer Rolle als erste Anlaufstelle für die „UmA“ – unbegleitete minderjährige Ausländer – im vergangenen Jahr gestemmt hat.
„Dass es ein Kraftakt war, kann nur bestätigt werden“, sagt Stadtsprecher Thomas Sprenger. Bochum sei nach der Entwicklung 2021 „wie jede Kommune in NRW nicht mehr auf die Aufnahme einer solch großen Anzahl geflüchteter junger Menschen eingestellt“ gewesen.
Bochum: junge Flüchtlinge vorübergehend in Turnhallen untergebracht
Im Herbst zeigte sich die Lage besonders angespannt, Bochums Sozialdezernentin Britta Anger sprach im September 2022 von einer „extremen Herausforderung“. Nur durch enge Kooperation städtischer Ämter (Jugendamt, Gesundheitsamt, Sozialamt, Ausländerbehörde), die ehrenamtliche Unterstützung verschiedener Organisationen – unter anderem Kinderschutzbund und die Falken – sowie die Unterstützung durch das zuständige Referat des NRW-Familienministeriums habe alles gelingen können, resümiert Sprenger.
Es habe „unzählige helfende Hände“ gegeben, so der Stadtsprecher, „die mit großem Einsatz bei der Bewältigung dieser Aufgabe geholfen“ hätten. Personal in der „UmA“-Fachstelle sei aufgestockt worden, die Jugendlichen durch Freie Träger der Jugendhilfe in bestehenden oder neu eingerichteten „Brückenlösungen“ übernommen. Provisorisch wurden die minderjährigen Flüchtlinge in Turnhallen betreut. Dies wiederum sei nur möglich gewesen „durch das Verständnis der Bürgerinnen und Bürger“, die die Hallen zeitweise nicht nutzen konnten.
Minderjährige Flüchtlinge in Bochum: Zahl steigt wieder
Soweit also der Blick zurück ins vergangene Jahr – aber wie ging es seitdem weiter? Im Januar berichtete Dezernentin Anger im Sozialausschuss noch von einer Entspannung der Lage. Die Verteilung auf andere Kommunen laufe inzwischen reibungsloser als noch im Herbst, in der Stadt gebe es genügend Unterbringungsplätze für die unbegleiteten Minderjährigen.
„Nach einer sich – scheinbar – beruhigenden Situation in den ersten Monaten des Jahres 2023 ist nun seit mehreren Wochen ein erneuter Anstieg zu verzeichnen“, berichtet Stadtsprecher Thomas Sprenger. Bis zum 13. Juni seien insgesamt bereits 807 „UmA“ in Bochum registriert worden, aktuell (Stand: 27. Juni) würden 76 junge Menschen „im Rahmen von Jugendhilfemaßnahmen in Bochum betreut und können hier eine Zukunftsperspektive pädagogisch begleitet entwickeln“.
So läuft die Verteilung ab
Wenn ein Jugendlicher in der Fachstelle für unbegleitete minderjährige Ausländer am Gersteinring ankommt, wird er laut Stadt durch das Jugendamt vorläufig in Obhut genommen. Anschließend folge zeitnah das „behördliche Altersfeststellungsverfahren“. Ist die Minderjährigkeit nachgewiesen, weise die Landesstelle NRW den Geflüchteten einem Jugendamt in NRW zur Aufnahme zu. Grundlage dafür sei der „Königsteiner Schlüssel“, der die Verteilung regelt.
In Bochum würden dann nach Möglichkeit noch die erkennungsdienstliche Behandlung und die Tuberkuloseuntersuchung durchgeführt, erklärt der Stadtsprecher. „In der Regel sollten die jungen Menschen zwei Wochen nach Zusendung ihrer Unterlagen in der aufnehmenden Kommune untergebracht werden“, heißt es. Alle Kommunen stünden aber aufgrund fehlender Plätze in der stationären Jugendhilfe vor der Herausforderung, „Kindern und Jugendlichen eine adäquate Unterbringung mit pädagogischer und gegebenenfalls therapeutischer Betreuung zu ermöglichen, in der sie ihre bisherige Lebens- und Fluchtgeschichte aufarbeiten und eine Perspektive für sich entwickeln können“.