Bochum. Klassischer Unterricht gehört in einer Bochumer Hauptschule bald der Vergangenheit an: Sie wagt ein komplett neues Konzept, das Erfolge zeigt.

Mittwochmorgen, dritte Stunde: Unterricht in der Werner-von-Siemens-Schule in Bochum. Hasan lernt mit Unterstützung seines Klassenlehrers Mathe am iPad. Zwei Räume weiter spielen Zura und Ayoub ein Spiel, Marlon sitzt zusammen mit einer Sozialpädagogin in der Lernberatung. Sie alle besuchen die fünfte Klasse der Hauptschule. Doch den klassischen Frontalunterricht gibt es hier nicht mehr. Das pädagogische Konzept ist ungewöhnlich.

„Es wird zunehmend schwieriger, den unterschiedlichen Leistungsständen mit herkömmlichem Unterricht gerecht zu werden. Es fehlt häufig die Zeit, die Kinder individuell zu fördern“, erklären Katharina Ziegler und Simon Junker, Klassenlehrerin und Klassenlehrer, sowie Sozialpädagogin Laura Schult. Der Fokus in Klasse fünf der Werner-von-Siemens-Schule liegt seit Beginn des Schuljahres auf dem selbstständigen Lernen.

Im Lernbüro unterstützt Klassenlehrer Simon Junker den Schüler Hasan (12) bei seinen Mathe-Aufgaben.
Im Lernbüro unterstützt Klassenlehrer Simon Junker den Schüler Hasan (12) bei seinen Mathe-Aufgaben. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Bochumer Hauptschule: Kein fester Stundenplan, kein Frontalunterricht

Einen festen Stundenplan gibt es nicht, sondern einen flexiblen Wochenplan: Dort sind einzelne Fachstunden eingetragen: Sport oder Schwimmen, der Waldtag am Montag und jeweils eine Stunde Mathe, Deutsch und Englisch. Den Großteil der Stunden aber können die Kinder sich selbst einteilen.

Auch einen typischen Klassenraum sucht man vergeblich. Am ähnlichsten wäre diesem noch der „Marktplatz“, wo kurze Einheiten durch die Lehrkräfte stattfinden oder Ergebnisse präsentiert werden. Aber: Dieser herkömmliche Unterricht dient als Ergänzung zum selbstständigen Lernen – und nicht umgekehrt.

An diesem Mittwoch verteilen sich die Schülerinnen und Schüler recht ausgewogen auf die unterschiedlichen Räume. Rounahi liest zusammen mit Lesepatin Margarete Merz ein Buch. Ganz still ist es nebenan im Lernbüro, wo etwa eine Handvoll Kinder konzentriert an ihren Aufgaben arbeitet, die einen machen Mathe, die anderen Deutsch. Jeder hat hier seinen festen Arbeitsplatz.

Sozialpädagogin Laura Schult sitzt an diesem Mittwoch in der Lernberatung.
Sozialpädagogin Laura Schult sitzt an diesem Mittwoch in der Lernberatung. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Schülerin: „Wir können selbst entscheiden, was wir gerade machen wollen“

Um zu sehen, welche Schülerin und welcher Schüler sich gerade wo befindet, gibt es eine „Wer ist wo?“-Tafel. Im Gruppenraum arbeiten drei Jungen an einer Aufgabe, Joana, Sophia und Lia putzen gerade die Tafel. Doch wie finden die drei Mädels dieses Konzept? „Es ist schon ganz cool. Wir können selbst entscheiden, was wir gerade machen wollen“, meint Lia (12).

Einmal wöchentlich nehmen die Kinder an einer Lernberatung teil. Dabei werden die Fortschritte der vergangenen Woche besprochen. Außerdem blicken die Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit dem Kind ins Lerntagebuch, um zu schauen, ob Ziele erreicht worden sind. So sei es möglich, einen Überblick über den Lernstand des Einzelnen zu behalten. Statt Klassenarbeiten werden Gelingensnachweise geschrieben. Wann diese erbracht werden, können die Kinder selbst entscheiden.

Die Idee des neuen Lernkonzepts kommt von Lehrerin Katharina Ziegler, die hier zusammen mit Marlon (11) sitzt.
Die Idee des neuen Lernkonzepts kommt von Lehrerin Katharina Ziegler, die hier zusammen mit Marlon (11) sitzt. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Die Idee dieses neuen Lernkonzeptes brachte Lehrerin Katharina Ziegler von einer Fortbildung mit. „Wir sehen jetzt schon, dass die Kinder Dinge besser schaffen“, sagt Ziegler. Sie seien deutlich selbstständiger. Wenn Kinder länger krank sind, könne verpasster Unterrichtsstoff besser aufgeholt werden. Auch auf geflüchtete Kinder, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, könne man ganz anders eingehen, ergänzt ihr Kollege Simon Junker.

„Die Evaluierung des Konzeptes ist sehr positiv ausgefallen, auch mit den neuen Fünfern werden wir so starten“, sagt auch Schulleiterin Ute Meyer-Lerch. Auch die baldigen Sechstklässler, bisher gibt es 37 Anmeldungen, werden weiterhin so lernen.

Eltern entscheiden sich trotz Bedarf gegen Hauptschulen – mit Konsequenzen

Besonders individuell auf die Schülerinnen und Schüler eingehen, Zeit für den Einzelnen haben. Gerade dafür wurde die Hauptschule einst geschaffen. Doch trotzdem: Immer weniger Eltern wählen diese Schulform für ihre Kinder. „Dabei gibt es nicht weniger Hauptschüler, sondern mehr“, betont die Schulleiterin. Allerdings würden diese häufig auf andere Schulen gehen, wo sie dann nicht zurecht kämen.

Mit Konsequenzen: Angst vor der Schule, Schulverweigerung. „Das sind Kinder, die hier eigentlich von Anfang an besser aufgehoben wären.“ Zumal sie an der Hauptschule genau die gleichen Abschlüsse machen könnten wie an der Realschule.

Alleine in Bochum gebe es derzeit 54 Kinder, die nach den Sommerferien von der Realschule in die siebte Klasse einer der beiden Hauptschulen wechseln – was diese vor Herausforderungen stellt. „Wir platzen aus allen Nähten“, macht Meyer-Lerch deutlich. Und trotzdem: Man versuche, jedes Kind aufzunehmen – und ihm hier eine Chance zu geben.

An der Hauptschule gibt es die Möglichkeit, besonders individuell auf Schülerinnen und Schüler einzugehen, erklärt Ute Meyer-Lerch, Leiterin der Werner-von-Siemens-Hauptschule in Bochum.
An der Hauptschule gibt es die Möglichkeit, besonders individuell auf Schülerinnen und Schüler einzugehen, erklärt Ute Meyer-Lerch, Leiterin der Werner-von-Siemens-Hauptschule in Bochum. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch