Bochum. Eine Kinderärztin schlägt Alarm: Jedes vierte Vorschulkind in Bochum habe keinen Kita-Platz. Die Konsequenzen bemerke sie tagtäglich.
Die Bochumer Kinderärztin Susanne Schmiegel-Gowin schlägt Alarm: Rund jeder Vierte ihrer Patienten im Vorschulalter habe keinen Platz in der Kita. In anderen Praxen zeige sich eine ähnliche Lage, mit gravierenden Folgen. Dabei sprechen die Zahlen der Stadt eine etwas andere Sprache: Stand Februar 2022 gibt es für Kinder ab dem dritten Lebensjahr 9456 Plätze – eine Versorgung von rund 96 Prozent. Doch wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Zahlen?
Kein Kita-Platz in Bochum: Kindern bleiben wichtige Sozialkompetenzen verwehrt
Wöchentlich mache Schmiegel-Gowin zwischen 15 und 20 Kindervorsorgeuntersuchung bei Vier- und Fünfjährigen – die sogenannten U-Untersuchungen. Der Anteil der Kinder, die in diesem Alter nicht in die Kita gehen, liege bei 25 Prozent. Auch Kollegen würden das bemerken, in ihrer Nähe im Bereich Gleisdreieck, aber auch darüber hinaus, zum Beispiel in Wattenscheid. Erst vergangene Woche habe sie an einem Meeting mit 31 Kinderärztinnen und -ärzten aus Bochum teilgenommen, das die Wahrnehmung bestätigt habe.
„Die Zahl ist alarmierend hoch“, so die Kinderärztin, die ihren Job seit 30 Jahren macht. „Der Kontakt und das Spiel mit Gleichaltrigen sind unabdingbar wichtig für das Erwerben von Sozialkompetenz. Wie spiele ich, wie vertrage ich mich“, erklärt die Kinderärztin. Auch Fein- und Grobmotorik leide, wenn Kinder nicht in der Kita gefördert werden. Stattdessen sorgen lange Zeiten vor Handy, Fernseher und Playstation dafür, dass Fettleibigkeit und Depressionen verstärkt würden.
Schuleingangsuntersuchung: Förderbedarf liege bei 30 Prozent
„Diese Kinder sind durch Versäumnisse der Politik von Stadt und Land entwicklungsverzögert und nicht auf die Schule vorbereitet“, so Schmiegel-Gowin. Sie betont, dass sie nichts gegen das Jugendamt in Bochum habe, im Gegenteil. Die Kinderärzte im Stadtgebiet seien froh über eine gute Zusammenarbeit. Doch: Bei den Schuleingangsuntersuchungen zeige sich, dass 30 Prozent der Kinder einen Förderbedarf hätten, weil sie keine oder zu wenig Zeit im Kindergarten verbringen.
Dass die Versorgungsquote bei den Über-Dreijährigen rund 96 Prozent betrage, kann sich Kinderärztin Schmiegel-Gowin kaum vorstellen. „Vielleicht sind da nicht alle Kinder erfasst, die Kita-bedürftig sind“, überlegt sie. Aber wie berechnet die Stadt Bochum die Versorgungsquote?
Sie basiert etwas vereinfacht erklärt auf einem Vergleich der Bevölkerungszahlen mit der Zahl an Betreuungsplätzen. „Bei der Planung von Betreuungsangeboten für Kinder wird jährlich eine Bedarfsanalyse durchgeführt und um die Einschätzung der freien Träger von Kindertageseinrichtungen sowie der Fachabteilung im Jugendamt ergänzt“, erklärt Stadtsprecher Thomas Sprenger.
Sind Kinder mit Migrationshintergrund häufiger ohne Kita-Platz?
Kinderärztin Susanne Schmiegel-Gowin stellt bei ihrer Arbeit immer wieder fest, dass es bei Familien mit Migrationshintergrund an Kita-Plätzen fehle. Doch gerade für deren Kinder sei ein Besuch der Kita unabdingbar – um die deutsche Sprache zu lernen. Zudem: „Ich habe hier viele sozial schwächere Familien. Ein Kita-Aufenthalt bedeutet auch, dass das Kind kindgerecht betreut wird, eine warme Mahlzeit am Tag isst“, so Schmiegel-Gowin. Sie vermutet, dass es häufig an der Anmeldung über das Kita-Portal der Stadt scheitere, weil Deutschkenntnisse dafür nicht ausreichen.
Wie viele Kinder sind im kommenden Jahr ohne Kita-Platz?
Wie viele Kinder in Bochum im kommenden Kita-Jahr ohne Platz sind, steht derzeit noch nicht fest. „Das Aufnahmeverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Teilweise fehlen noch abschließende Rückmeldungen von Eltern, die ein Vertragsangebot erhalten haben“, heißt es von Stadtsprecher Thomas Sprenger.Noch immer würden Kitas derzeit den Kontakt mit Eltern aufnehmen und Betreuungsplätze zum 1. August anbieten. Ob Kinder leer ausgehen, könne die Stadt frühstens Ende Juni sagen.
„Tatsächlich haben manche Eltern mit internationaler Familiengeschichte aufgrund von Sprachschwierigkeiten Probleme mit dem Zugang zum und dem Verständnis im Umgang mit dem Kita-Portal“, erklärt Stadtsprecher Thomas Sprenger. Deshalb biete das Familienbüro umfassende Beratungen an und führe Eltern bei Bedarf durch den Anmeldeprozess.
Zu wenig Kita-Plätze in Bochum – auch für Unter-Dreijährige
Warum sich die Versorgungsquote der Stadt Bochum so von der Wahrnehmung der Kinderärzte unterscheidet, lässt sich nicht abschließend klären. Fakt ist jedoch, dass es zu wenig Kita-Plätze gibt, für Über- und Unter-Dreijährige. Susanne Schmiegel-Gowin fordert deshalb mit anderen Kinderärzten in Bochum und auch Herne, dass sich etwas ändert. Das müsse dort anfangen, dass Erzieherinnen und Erzieher besser bezahlt werden – ab Beginn der Ausbildung.