Bochum. Die katholische Kirche wird vom Missbrauchsskandal erschüttert. Die Austritte nehmen zu. In Bochum findet Propst Michael Ludwig drastische Worte.

Die Austritte aus der katholischen Kirche haben sich in Bochum im vergangenen Jahr verdoppelt. 1702 Menschen kehrten ihr 2021 den Rücken. Im Vorjahr waren es 874. „Ich vermute nun die nächste Welle von Austritten“, sagt Propst Michael Ludwig. „Und ich kann auch jeden und jede sehr gut verstehen, der das in diesen Tagen tut.“

Der Missbrauchsskandal erschüttert die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Bestürzt und beschämt zeigt sich Propst Ludwig als einer der einflussreichsten Katholiken in Bochum (Pfarrei St. Peter und Paul mit 32.000 Mitgliedern) über das jüngste Gutachten des Erzbistums München und Freising. Danach wurden in dem Bistum mindestens 497 Kinder und Jugendliche zwischen 1945 und 2019 von Priestern, Diakonen oder anderen Mitarbeitern sexuell missbraucht. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. wurde einer Falschaussage überführt.

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Auch Bochum war 2019 von einem Missbrauchsskandal betroffen

„Benedikt galt uns bisher als höchst integrer Mensch. Entsprechend geschockt sind meine pastoralen Kollegen und ich. Warum konnte er nicht einfach erklären: Ich habe damals Mist gebaut“, sagt Michael Ludwig im WAZ-Gespräch. „Ungeheuerlich“ sei es, dass ein Geistlicher seinerzeit weiterbeschäftigt wurde, obwohl er sich als Exhibitionist vor Kindern gezeigt hatte. „Es hieß entschuldigend, es sei ja zu keinem sexuellen Akt gekommen. Aber auch das ist nichts anderes als Missbrauch!“

Dabei ist Bochum – genauer: Wattenscheid – ein gebranntes Kind. 2019 war bekannt geworden, dass ein Priester im Ruhestand jahrelang in der St.-Joseph-Gemeinde gewirkt hat, obwohl er wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zuvor mehrfach rechtskräftig verurteilt worden war. In einem bislang beispiellosen Akt in der Geschichte der katholischen Kirche in Bochum wurde 2020 während einer Messe eine Entschuldigung des Ruhrbischofs Franz-Josef Overbeck verlesen.

Nach dem Missbrauchsskandal in der St.-Joseph-Gemeinde in Wattenscheid verlas Pastor Klaus Reiermann 2020 eine Entschuldigung des Ruhrbischofs Overbeck.
Nach dem Missbrauchsskandal in der St.-Joseph-Gemeinde in Wattenscheid verlas Pastor Klaus Reiermann 2020 eine Entschuldigung des Ruhrbischofs Overbeck. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Bochumer Propst spricht vom „Saftladen Kirche“

Als „schreckliches Leid, das Priester Kindern und Jugendlichen angetan haben“, geißelt Propst Ludwig das fatale Prinzip des „Weiterreichens“. Auf Facebook schreibt er mit Bezug auf München/Freising: „Und es fehlen ja noch viele Studien aus den anderen deutschen Bistümern, von anderen Ländern und Kontinenten ganz zu schweigen.“ Man ahne nur, was noch ans Licht kommen könnte.

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Dringend müsse die Kirche handeln. Müsse schonungslos aufdecken, welche Verbrechen in der Vergangenheit stattgefunden haben. Müsse kompromisslos einschreiten, wenn amtierende Würdenträger ihrer Vorbildfunktion nicht gerecht werden. Müsse Überzeugungsarbeit für den (Originalton Ludwig) „Saftladen Kirche“ leisten, um nicht noch mehr Gläubige zu verlieren.

Geistlicher beschwört: „Der Glaube ist das Elementare“

Ebenso vehement wehrt sich Ludwig gegen jedweden Generalverdacht. „Sie sind doch auch einer von denen!“ – So weit dürfe es nicht kommen. „Bemerkenswert“ findet Ludwig („Ich bin so gerne Priester“) eine Zuschrift, die ihn von einem Bochumer Rechtsanwalt erreicht hat. „Er kündigt darin an, aus der Kirche auszutreten. Das habe aber nichts mit seiner Wertschätzung für mich als Propst, sondern allein mit der Institution Kirche zu tun.“

Propst begrüßt queere Aktion

Ausdrücklich begrüßt Propst Ludwig die Initiative „Out in Church. Für eine Kirche ohne Angst“. 125 Mitarbeiter der katholischen Kirche haben sich dabei als queer geoutet.

„Ich finde das eine klasse Aktion und freue mich, dass auch zwei Bochumerinnen beteiligt sind“, so Ludwig. Derzeit werde darüber nachgedacht, sich in einer Resolution hinter die Ziele der Mitarbeiter zu stellen.

Die schwulen, lesbischen und transsexuellen Kirchen-Beschäftigten fordern ein Ende jedweder Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung.

„Tief eintauchen in meine Glaubensgeschichte, sozusagen zu den Wurzeln hinab“, müsse er, um einen Grund der Hoffnung zu finden, schreibt Ludwig. Ihm sei schmerzhaft bewusst geworden, „zu einer Kaste von Missbrauchstätern zu gehören“. Ein Leben mit Gott könne dennoch weiter gelingen. „Der Glaube ist das Elementare, nicht die Organisation.“

Das empfinden immer mehr Katholiken offenbar ähnlich. Die Termine für Kirchenaustritte beim Bochumer Amtsgericht sind trotz engerer Taktung bis Mitte Februar ausgebucht.