Bochum. Im Juni 2019 hat Bochum den Klimanotstand ausgerufen. Was ist seither passiert? Zu wenig, hieß es beim WAZ-Umweltgipfel. Was jetzt zu tun wäre.

Das Umweltbewusstsein in Bochum hat zugenommen. Um dem Klimawandel zu begegnen, müssen Stadt und Politik aber deutlich tiefgreifendere und schnellere Entscheidung treffen. Dabei müssen die Bürgerinnen und Bürger mehr als bisher mitreden und Einfluss nehmen können. Das sind die wichtigsten Botschaften des zweiten WAZ-Umweltgipfels.

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Im März 2020, kurz vor Ausbruch der Pandemie, hatte die WAZ erstmals Vertreter der Stadt Bochum sowie heimischer Umweltverbände und Initiativen zum kontroversen Austausch eingeladen – damals in der WAZ-Redaktion. In dieser Woche traf sich die – erweiterte – Runde wieder: wegen Corona diesmal bei einer mehr als zweistündigen Videokonferenz. Anlass: Vor zwei Jahren, im Juni 2019, hat der Rat den Klimanotstand ausgerufen, verknüpft mit dem Versprechen, den Klimaschutz „bei jeglichen davon betroffenen Entscheidungen (zu) berücksichtigen“.

Nur heiße Luft? Nur ein „PR-Gag“ der rot-grünen Ratsmehrheit, wie die Fraktion der Stadtgestalter/Die Partei jüngst spottete? Keineswegs, sagt die städtische Klimaschutzbeauftragte Sonja Eisenmann und bekräftigt: „Es ist ernst gemeint.“ Sehr wohl, entgegnen Umweltaktivisten und konstatieren: „Wir müssen endlich lernen, dass diese Welt Grenzen für unser Leben setzt.“

Die Proteste gegen Wohnbebauungen und die Versiegelung von Freiflächen (hier die Bürgerinitiative Gerthe-West) nehmen zu, ebenso wie der Aufschrei nach Baumfällungen. Wie Bürger die Entscheidungen von Stadt und Politik rechtzeitig beeinflussen könnten, war ein Thema beim WAZ-Umweltgipfel.
Die Proteste gegen Wohnbebauungen und die Versiegelung von Freiflächen (hier die Bürgerinitiative Gerthe-West) nehmen zu, ebenso wie der Aufschrei nach Baumfällungen. Wie Bürger die Entscheidungen von Stadt und Politik rechtzeitig beeinflussen könnten, war ein Thema beim WAZ-Umweltgipfel. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Was ist seit 2019 passiert?

Ihre Arbeit sei ein Ergebnis der damaligen Notstands-Resolution, sagt Sonja Eisenmann. Seit 2020 leitet sie die neu geschaffene „Stabsstelle Klima und Nachhaltigkeit“ mit fünf Mitarbeitern. Ihr Vorgesetzter ist Baudezernent Markus Bradtke – was Umweltaktivisten zweifeln lässt, ob dem Klimaschutz im Rathaus die dringend notwendige Bedeutung zugemessen wird. Vom „Feigenblatt“ ist die Rede; von unzureichendem Einfluss der städtischen Klimaschützer auf das Tagesgeschäft der Verwaltung.

Streitpunkt: Bauen

Ein Umdenken bei der Bauplanung könne sie beim besten Willen nicht erkennen, bekräftigt Nadja Zein-Draeger vom „Netzwerk bürgernahe Stadtentwicklung“. Nach wie vor werde das Wohnbauflächenprogramm der Stadt „gnadenlos durchgezogen“. Gegen jeden gesunden Menschenverstand werde ökologisch wertvoller Freiraum „in großem Stil“ versiegelt und bebaut – meist mit Einfamilienhäusern statt mit tatsächlich benötigtem Wohnraum für sozial Schwächere, ergänzt Sofia Zeisig von der Initiative „Stadt Park Garten“. Der Flächenverbrauch in Bochum sei extrem, warnt auch Brigitte Giese vom BUND und berichtet von einem Gespräch mit einem Bezirksbürgermeister: „Der sagte mir: ,Immobilienunternehmen müssen auch Geld verdienen.’“

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Ingo Franke (Arbeitskreis Umweltschutz) fordert, alle aktuellen Bauprojekte unverzüglich zu stoppen und unter Klimaschutz-Kriterien neu zu bewerten und planen. So könne es zum Beispiel nicht sein, dass das künftige „Haus des Wissens“ in der Innenstadt keine Photovoltaik-Flächen aufweisen soll. Sonja Eisenmann verweist auf die Hoheit des Stadtplanungsamtes, kündigt aber an, bis zur Sommerpause einen „Klima-Check“ mit verbindlichen Entscheidungskriterien vorzulegen. Gut so, meint Steffen Schüttler vom Naturschutzbund Nabu. „Aber der war schon für 2019 versprochen.“

Das Hannibal-Einkaufszentrum (hier mit Markus Langer) geht beim Einsatz von Photovoltaik auf Dachflächen in Bochum mit gutem Beispiel voran. Vielfach bleiben die Potenziale für Sonnenergie aber noch ungenutzt, bemängeln Naturschützer.
Das Hannibal-Einkaufszentrum (hier mit Markus Langer) geht beim Einsatz von Photovoltaik auf Dachflächen in Bochum mit gutem Beispiel voran. Vielfach bleiben die Potenziale für Sonnenergie aber noch ungenutzt, bemängeln Naturschützer. © WAZ FotoPool | Ingo Otto

Streitpunkt: Energie

Lediglich 3,2 Prozent der Dachflächen in Bochum werden für Sonnenenergie genutzt, hat Helge Ehrhardt von den „Scientists for Future“ ausgerechnet. Dabei sei Photovoltaik im eng bebauten Stadtgebiet („elfmal dichter als im Deutschland-Schnitt“) die einzige Chance, grünen Strom zu gewinnen. 70 Prozent aller Dächer wären dafür geeignet, so Ehrhardt. Die Stadt und Stadtwerke müssten mit gutem Beispiel vorangehen, auch bei Dachbegrünungen.

Tun sie aber nicht, grollt Ingo Franke. Als „lächerlich“ empfindet er die 30.000 Euro, die die Stadt auch in diesem Jahr zur Förderung des Photovoltaik-Ausbaus bereit stellen will. „Das entspricht in etwa einem Euro pro Wohngebäude.“

Sarah Matheisen will den Stadtwerken Dampf machen. Für die „Klimawende Bochum“ kündigt sie einen Einwohnerantrag an, der den Energieversorger verpflichten soll, bis 2025 ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu liefern.

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Streitpunkt: Verkehr

„Wir brauchen weniger Autoverkehr in den Städten“, sagt Sonja Eisenmann. Die Zeiten der „Autostadt Bochum“ seien vorbei. Tempo machen!, fordert die Jugend. „Wir müssen endlich in die Pötte kommen, damit Bochum bis spätestens 2030 Klimaneutralität erreicht“, appelliert Joris Scholl von „Fridays for Future“. Der neue Klimaplan der Stadt setzt sich das für 2035 zum Ziel (siehe Info-Kasten).

Klimaplan soll bis Ende 2022 vorliegen

Die Stadt Bochum will bis 2035 klimaneutral sein. Den verbindlichen Weg dorthin soll ein Klimaplan weisen, den die Stadt jetzt ausgeschrieben hat.

250.000 Euro werden für den Klimaplan bereitgestellt. Expertenbüros können sich bewerben. Ende 2022 soll der Klimaplan dem Rat vorgelegt werden.

Das sei deutlich zu spät, bemängelten Teilnehmer beim WAZ-Umweltgipfel. „Wir müssen sofort jährlich 15 Prozent der Treibhausgase einsparen. Das machen wir nicht mit weiteren Gutachten“, meint Ingo Franke vom Arbeitskreis Umweltschutz.

Neben dem ÖPNV komme dem Ausbau des Radverkehrs bei der CO2-Reduzierung überragende Bedeutung zu, betont Dominik Bald vom Bochumer „Radwende“-Bündnis. An guten Vorsätzen der rot-grünen Ratskoalition mangele es nicht. Sehr wohl aber an der Umsetzung. Bald: „Es werden noch immer zu wenig Radwege gebaut – und wenn, dann sind sie nicht durchgängig, etwa auf der Königsallee.“ Zudem fehle es an der Bereitschaft, wie etwa Berlin oder München ungewöhnliche Wege zu gehen und Pop-up-Radwege auf einer Autofahrspur zu genehmigen. Die „Radwende“ will den Druck auf die Politik erhöhen. Derzeit wird ein „Radentscheid“ vorbereitet, der die Verkehrswende ins Rollen bringen soll.

Der Anteil des Radverkehrs soll in Bochum deutlich größer werden. Umweltbündnisse wie die „Radwende“ machen sich für einen schnelleren und umfassenderen Ausbau des Radwegenetzes stark und finden immer mehr Unterstützer.
Der Anteil des Radverkehrs soll in Bochum deutlich größer werden. Umweltbündnisse wie die „Radwende“ machen sich für einen schnelleren und umfassenderen Ausbau des Radwegenetzes stark und finden immer mehr Unterstützer. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Wie geht es weiter?

Der Umweltgipfel findet ein versöhnliches Ende. Stefan Wolf vom Bochumer Klimaschutzbündnis und weitere Umweltaktivisten bieten Sonja Eisenmann an, ihr „den Rücken zu stärken“ und bei Beratungen und Entscheidungen im Rathaus künftig dabei zu sein, etwa bei Verkehrsfragen oder den heftig umstrittenen Baumfällungen.

Dabei könnte auch Anja Nicole Stuckenberger ihre Stimme einbringen. Als Umweltbeauftragte der Evangelischen Kirche in Bochum will sie die Umweltinitiativen in den Gemeinden und die ökumenische Zusammenarbeit ebenso ausbauen wie die Wahrnehmung in der Zivilgesellschaft. „Der Schutz der Umwelt ist der Schutz der Schöpfung“, sagt Anja Nicole Stuckenberger. Diesmal ohne Widerrede der Gipfel-Teilnehmer.