Bochum. Eine Geige aus dem 19. Jahrhundert schreibt Bochumer Familiengeschichte. Aus Ostpreußen gelangte sie einst ins Ruhrgebiet.
Auf den ersten Blick sieht das Instrument aus wie eine normale Geige, nichts Ungewöhnliches scheint dem matt glänzenden, rotbraunen Korpus anzuhaften. Und doch ist das gute Stück, das da in Bochum bei Winfried Karhof im Wohnzimmer adrett und gewienert auf dem Tisch liegt, etwas Besonderes. Denn die Geige steht gleichsam für die Familiengeschichte der letzten 150 Jahre. Von Masuren gelangten die Karhofs ins Ruhrgebiet. Und die Geige zog mit ihnen.
Dorfschullehrer in Ostpreußen
Aber der Reihe nach. Seit Karhof denken kann, spielt besagte Violine in seinem Leben eine gewichtige Rolle. Sie ist ein Stück Familientradition. „Mein Großvater war Dorfschullehrer in Masuren, damals Ostpreußen. Da er auch Musik unterrichte, besaß er eine Geige - diese hier“, sagt Karhof und weist auf das schmucke Instrument auf seinem Wohnzimmertisch.
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Opa Leopold starb 1913, seine Witwe zog zu Verwandten ins Ruhrgebiet, schließlich gelangte sie nach Bochum, wo Winfried Karhof 1934 zur Welt kam. Sein Vater habe auf der Geige, die in der Familie „die Fiedel“, genannt wurde, gern gespielt, überhaupt ist die Familie musikalisch. „Ich kann mich gut erinnern, dass Vater Weihnachten mit meinen Geschwistern - Violine, Gitarre, Flöte - den Gesang begleitete“, denkt Karhof zurück.
Er selbst, der später als technischer Angestellter an der Ruhr-Uni tätig war, sei nicht wirklich musikalisch, räumt der 86-Jährige ein. Und doch wurde er einst „der Geiger“ genannt.
In der Schule ausgeholfen
Und das kam so: „Als nach 1945 die Schule wieder begann, hatte unser Musiklehrer kein Begleitinstrument, seine Geige war im Bombenkrieg verloren gegangen“, erzählt Karhof. Sein Vater habe sich in Notzeiten sogleich bereit erklärt, mit seinem Instrument auszuhelfen. „Da ich nun mit der Geige unter dem Arm zur Schule kam, wurde ich in der Klasse nur noch ,Geiger’ genannt“, schmunzelt Karhof. Ausgemacht habe ihm das aber nichts.
Doch für das Instrument, dessen Entstehung auf die Mitte des 19. Jahrhunderts geschätzt wird und das schon so viel erlebt hatte, hatte dann keiner mehr eine Verwendung. Die Geige kam in ihr Köfferchen und wurde im Schrank verstaut. Dort blieb sie, bis eine neue Generation sie wiederentdeckte.
Im Sinfonieorchester der Ruhr-Universität aktiv
Bastian Hillebrand ist Jahrgang 1991, der Enkel von Winfried Karhof und jüngster Spross der Familie. Er macht gerade seinen Doktor in Elektrotechnik, ist aber begeisterter Hobbymusiker. Und zwar einer mit Anspruch: Im Sinfonieorchester der Ruhr-Universität ist er Konzertmeister, also der 1. Geiger. „Als ich vor einigen Jahren statt eines Leih- nach einem eigenen Instrument suchte, wurde ich auf unsere Familien-Geige aufmerksam“, sagt Hillebrand.
Die Violine
Die Violine oder Geige, wie sie heute gebräuchlich ist, wurde Anfang des 16. Jahrhunderts entwickelt. Sie ist eines der bekanntesten Musikinstrumente überhaupt. Ihre vier Saiten werden mit einem Bogen gestrichen, mit der Bogenstange leicht geschlagen oder mit den Fingern gezupft (Pizzicato).
In der Tradition der klassischen europäischen Musik spielt die Violine eine wichtige Rolle, aber auch in der Volks- und Hausmusik kam und kommt sie zum Einsatz. Selbst die Jazz- und Rockmusik hat die (oft elektrisch verstärkte) Geige als ausdrucksvolles Instrument entdeckt.
Es war für alle ein spannender großer Moment, als das gute Stück aus dem Schrank hervor geholt wurde. „Die Geige war zwar nicht mehr in Top-Form“, sagt Hillebrand, „aber sie konnte problemlos restauriert werden.“ Ein Geigenbauer in Essen übernahm das, dabei auch herauskam, dass „die Fiedel“ eine „Stradivari“ ist. Natürlich keine leibhaftige aus der Werkstatt des legendären Cremoneser Geigenbauers Antonio Giacomo Stradivari (1644-1737).
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„Aber sie ist in der Art einer Stradivari ausgeführt“, sagt Hillebrand. Das Instrument sei leicht und angenehm zu spielen, und es hat einen schönen Klang: „Schon oft bin ich auf diesen Klang angesprochen worden“, sagt Hillebrand, „er fällt auf, wenn man ein Ohr dafür hat.“
Der 29-Jährige ist froh ist, dass das Familienerbstück schließlich in seinen Händen gelandet ist - und auch wieder benutzt wird. Wie von seinem Ur-Ur-Großvater Leopold, der sie im fernen Masuren einst besessen hatte.
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