Bochum. Der ehemalige Chef des Katholischen Klinikums Bochum lebt seit 2019 in Italien. Für die WAZ beschreibt er, wie er die Corona-Katastrophe erlebt.

Es geht ihm gut in seiner neuen Heimat. Gesundheitlich. Denn die Katastrophe, die unweit seines Altersruhesitzes im Friaul im Nordosten Italiens wütet, berührt Prof. Peter Altmeyer zutiefst. Für die WAZ gibt der ehemalige Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum und langjährige Direktor der Dermatologischen Klinik Einblicke in sein Seelenleben und erklärt, was aus ärztlichem, aber auch wirtschaftlichem Verständnis geschehen müsse, um der Corona-Krise zu begegnen:

Shutdown im Paradies

"Als wir letztes Jahr beschlossen, uns an der norditalienischen Küste nahe Triest niederzulassen, war von Corona noch keine Rede. Mit 75 wollte ich die südeuropäische Kultur, die Landschaften, die Menschen, Küche und Sprache kennenlernen und mit Meerblick weiter an meiner Online-Enzyklopädie schreiben.

Ich war gut informiert, als die Vorgänge in China bekannt wurden. Einerseits war China topographisch weit weg, andererseits schlich sich ein leichtes Unbehagen ein, da in Italien fünf Prozent Chinesen leben, die einen engen Austausch mit ihrer Heimat pflegen. Doch Friaul ist eine saubere und fast deutsch organisierte Region. So blieben wir hier und erleben den italienischen Shutdown am eigenen Leib.

Italien ist diesen Sommer nicht das Paradies, das ich suchte. Die Infektionsstatistik verläuft hier im Friaul aber weniger dramatisch als in Venetien. Noch fehlt es an nichts, die Gartencenter konnten wieder eröffnen. Die Polizei, die hier patrouilliert, verhält sich höflich und respektvoll, die Bürger ebenfalls. Im Supermarkt trägt jeder Maske und Handschuhe."

Angst und Stille sind eingekehrt

Macht euch um mich keine Sorgen, lautet Peter Altmeyers Botschaft an die Angehörigen und Freunde daheim. Vom täglich hundertfachen Sterben etwa in der Region Bergamo sei er hinreichend weit entfernt, betont er mehrfach im WAZ-Gespräch, macht zugleich aber massive Versäumnisse der italienischen Behörden aus:

"Als China eine 11-Millionen-Provinz isolierte und die WHO zunächst keinen Weltnotstand ausrief, hoffte man in Italien noch auf eine lokal begrenzte Endemie. Leider war man sich damals nicht im Klaren, dass die Infektion bereits heftig grassierte. Tausende besuchten Sportveranstaltungen und Messen. Am 18./19. Februar, vor dem Neujahrsfest in China, gingen noch 250 Flüge von China nach Europa. All dies waren wohl Multiplikatoren, die zu den verheerenden Infektionen geführt haben.

Italien ist hart getroffen. Man spricht von ,Krieg und Kampf`gegen das Virus. Die Regierung straft Zuwiderhandlungen mit 120 bis 300 Euro Bußgeld. Angst und Stille sind eingekehrt in diesem fröhlichen und auch lauten Land, Angst vor der Infektion und Angst vor den wirtschaftlichen Konsequenzen.

In den Medien wird alles ausführlichst diskutiert, ja eigentlich wird über alles berichtet. Menschen, die sich trösten, Musik oder Gesang, was gekocht wird, über seelische Erschöpfung, überlastete Ärzte, ob sie nun Helden sind oder in ein unverantwortliches Martyrium geraten. Papst Franziskus ist jeden Tag zu sehen, Solidarität scheint omnipräsent zu sein. Gezeigt werden auch ungefilterte Bildern von Intensivstationen, die ein nicht-ärztliches Auge erschüttern. Angehörige, die sich weinend verabschieden und nicht wissen, ob sie sich wiedersehen."

Anruf bei Axel Schäfer

Als erfahrener Mediziner habe er schnell konstatiert, dass das italienische Gesundheitssystem auf die Corona-Herausforderungen nicht adäquat habe reagieren können. Es fehlen Beatmungsplätze und Schutzmasken, auch Ärzte und Schwestern. Italien entsendete ein verzweifeltes, weltweites SOS. Altmeyer handelte:

"Als ich erfuhr, dass der Ministerpräsident der Lombardei kritisierte, dass Frankreich und Deutschland bei den humanitären Maßnahmen mit Abwesenheit glänzten, Russland jedoch Militärärzte und Hilfsmaterial einfliegen ließ, wunderte ich mich über die fehlende europäische Solidarität und rief den Bochumer SPD-Bundestagsabgeordneten Axel Schäfer an, der auch Vorsitzender der italienisch-deutschen Parlamentariergesellschaft ist. Ich fragte ihn, ob man Derartiges in Europa einfach so hinnehmen sollte. Axel Schäfer ersuchte die Kanzlerin um eine Sofortmaßnahme.

Diese erfolgte. Als eine Lieferung von 300 Beatmungssystemen kam, wurde dies am gleichen Tag auf RAI gesendet. Als mehrere Patienten aus dem Krisengebiet Bergamo durch die Bundewehr ausgeflogen und in deutschen Krankenhäusern untergebracht wurden, darunter auch zwei Patienten im Katholischen Klinikum Bochum, wurde über diese solidarische Aktion in den Medien äußerst positiv berichtet und Außenminister Luigo Di Maio war emotional berührt."

Immunisierung ist nicht zu verhindern

Was ist aktuell zu tun? Welche Antworten hat Peter Altmeyer auf die einzigartigen Herausforderungen der Pandemie?

"Der amerikanische Ökonom Richard Baldwin hat für das jetzige Corona-Verhalten ein typisches Verlaufsmuster erkannt: ,Epidemien werden am Anfang leider oft unterschätzt, im weiteren Verlauf aber auch deutlich überschätzt.' Meine große Sorge ist, dass sich Italien derzeit immer noch in dieser zweiten Phase befindet.

Bei dieser Pandemie geht es um Effektivität und Verhältnismäßigkeit. Im Fall von Covid-19 sind sich die meisten Epidemiologen einig, dass eine sogenannte Herdenimmunisierung stattfinden wird. Sie ist, so oder so, nicht zu verhindern. Dies bedeutet, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immunisieren werden, bis die Pandemie abflaut."

Mit dem Virus leben lernen

Während Kollegen dringend raten, sämtliche Lockerungen noch lange beizubehalten, befürwortet Peter Altmeyer eine differenzierte Lösung. Sein Rezept: Die Alten schützen, den Jungen ihren Alltag aber sukzessive wiedergeben:

"Was wir brauchen ist eine allgemeine, das Infektionsrisiko minimierende Praxis und gleichzeitig spezifische Interventionen, die das Risiko für alle gefährdeten Gruppen möglichst auf null herunterfahren. Hierdurch gewinnt man wertvolle Zeit. Danach beginnt eine regionalspezifische, behutsame Normalisierung des täglichen Lebens, das sogenannte ,Zusammenleben mit dem Virus`. Die Risikogruppen - vor allem die ältere Generation - sind zu schützen, während man dem Rest der Bevölkerung erlaubt, sich zu immunisieren.

Auf der einen Seite hat das Wohl des erkrankten Patienten allererste Priorität. Auf der anderen Seite muss aber auch die wirtschaftliche Komponente berücksichtigt werden. Bei diesem Dualismus gibt es leider kein zweierlei Maß. Wohlstand und gesundheitliche Versorgung hängen nun mal eng miteinander zusammen."