Bochum. Ein Bochumer ist Gastprofessor in China. Im WAZ-Gespräch warnt er: Lange könne die Isolation von Millionen Menschen nicht mehr funktionieren.
Die Zahlen sind alarmierend. Die Entwicklung ebenso. Mehr als 2600 Tote hat das Coronavirus in China bisher gefordert. 78.000 Menschen sind nach amtlichen Angaben infiziert. Komplette Städte und Regionen sind abgesperrt, stehen unter Quarantäne. Längst hat das Virus Europa erreicht. Während auch hierzulande die Angst vor einer drohenden Pandemie wächst, „liegen die Nerven in China blank“, beobachtet Ulrich Sollmann, als Sozialwissenschaftler, Psychotherapeut und Gastprofessor der Universität von Shanghai ein intimer China-Kenner. WAZ-Redakteur Jürgen Stahl sprach mit dem 72-jährigen Bochumer.
Herr Sollmann, was genau machen Sie beruflich in China?
Seit zehn Jahren führe ich im Auftrag von Universitäten und Bildungseinrichtungen mehrmals jährlich Weiterbildungen für Ärzte und Psychotherapeuten im Großraum Peking durch. Als Sozialwissenschaftler bietet sich mir dabei auch ein spannender und authentischer Einblick in diese für uns oft fremde Gesellschaft. Ich will die Menschen verstehen lernen. Darüber berichte ich auch als Journalist.
Bochumer Gastprofessor in China: „Die Nerven liegen blank“
Wann waren Sie zuletzt in China?
Im November 2019, also vor dem Ausbruch des Coronavirus. Ich stehe seither aber nahezu täglich in Kontakt zu Kollegen und Bekannten. Zudem gebe ich Online-Seminare, mitunter für mehr als 1000 Teilnehmer. Dabei bin derzeit eher als Krisenmanager gefragt.
Wie erleben Sie das Land aktuell?
Natürlich kann ich nicht für mehr als 1,4 Milliarden Menschen sprechen. Zur Hauptkrisenregion in Wuhan habe ich wenig Beziehungen. Aber ich kann sagen: Die Menschen sind tief verunsichert und verängstigt. Das hat nicht nur etwas mit der unmittelbaren Gefahr zu tun. Die Chinesen sind ein höchst kommunikatives Volk. Sie sind gern draußen, in Gemeinschaft, gehen in Restaurants essen. All das ist komplett zum Erliegen gekommen. Jetzt sind sie gezwungen, daheim zu bleiben. Das widerspricht komplett ihrer Mentalität. Das kennen sie nicht. Deshalb werden viele depressiv, wütend, mitunter aggressiv. Die Nerven liegen vielerorts blank.
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Spiegelt sich das bei den Ärzten und Therapeuten wider?
Auch hier herrscht Verunsicherung. Eine professionelle seelische Krisenbewältigung ist in China noch weitgehend unbekannt. Mit Corona sehen sich die Kollegen ganz neuen Herausforderungen gegenüber. Wie gehe ich mit dem Tod von Familienangehörigen und Freunden um? Was macht latente Todesangst mit den Menschen? Wie bewältigt man die Isolation?
Ihre Antworten?
Unterstützung suchen! Zum Glück gibt es in China einen großen familiären Zusammenhalt. Viel läuft auch über die sozialen Medien, gerade in diesen schweren Wochen und Monaten. Die digitale Gemeinschaft bietet Schutz und Aufgehobensein in der Gruppe.
Die Auflehnung wird wachsen
Millionen Menschen zu isolieren: Wie lange kann das Ihrer Meinung nach gutgehen?
Die Chinesen sind ungeheuer diszipliniert. Das Befolgen selbst so schneller und drastischer Maßnahmen wie im Zuge des Coronavirus ist gelernt. Regionen in den Dimensionen Frankreichs stehen unter Quarantäne. Man stelle sich eine ähnliche Situation bei uns in Bochum vor! Die ganze Stadt abgeriegelt. Unvorstellbar. Aber auch in China lässt sich das nur auf Zeit durchhalten. Schon wächst die Kritik an der Regierung. Der Tod des Arztes, der das Virus frühzeitig erkannt, anfangs aber vergebens gewarnt hatte, war eine Zäsur. Die Auflehnung gegen die Maßnahmen wird wachsen, je länger sie andauern. Dann sind möglicherweise nicht mehr das Virus, sondern Protest und Panik das Problem.
Diakonie befürwortet Ausbildungsgarantie
Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, befürwortet die Diakonie Ruhr eine Ausbildungsgarantie für die Pflege. „Allein in NRW werden in den kommenden Jahren mehrere tausend Pflegekräfte benötigt. Das Problem dabei ist: Der Arbeitsmarkt ist leergefegt“, sagt Geschäftsführer Jens Fritsch.
Ein „extrem interessanter Ansatz“ sei daher die Forderung von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CD), eine Ausbildungsgarantie für jeden jungen Menschen zu geben, der Pflegekraft werden wolle.
Jens Fritsch bekräftigt: „Wir lassen immer noch nicht alle in die Pflegeschulen, die dort lernen wollen.“ Ein Umdenken sei nötig.
Spüren Sie auch hierzulande eine wachsende Furcht?
Ja. Wer sich mit China beschäftigt, sieht sich auch mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert.