Bochum. Anton Tschechows „Iwanow“ kommt am Schauspielhaus Bochum als Neuinszenierung auf die Bühne. Regisseur Johans Simons gelingt ein großer Wurf.

Um es gleich zu sagen: Dieser „Iwanow“ ist ein großer Wurf. Johan Simons hebt Anton Tschechows 1889 entstandene Tragödie am Schauspielhaus Bochum behutsam hoch und legt sie in der Gegenwart ab. Das müde Lebensbild des alten Russlands, das als Folie dient, wird zur Folie der Existenzkrise des Menschen generell. Darüber hinaus ist es superbes Schauspielertheater. Was will man mehr?

Simons hatte zuletzt mit „Hamlet“ eine Inszenierung hingelegt, die Shakespeares Riesendrama zum Kammerspiel einer verlorenen Jugend verdichtete.

Scheinwerfer in Bochum richtet sich auf die Schauspieler

Der Scheinwerfer stand voll auf der Hauptperson in Gestalt der Ausnahme-Aktrice Sandra Hüller. Mancher hatte deshalb vermutet, bei „Iwanow“ würde der Bochumer Intendant ähnlich operieren – und einen auf die Titelrolle fokussierten Abend liefern, die mit Ifflandring-Träger Jens Harzer ebenfalls höchst prominent besetzt ist.

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Doch nichts da. Johan Simons lässt sich nicht ohne Weiteres ausrechnen, das macht ihn ja gerade aus. Zwar stehen in seiner „Iwanow“-Aufnahme naturgemäß der Antiheld und sein Darsteller im Fokus. Aber nicht minder groß sind die Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die der Regisseur dem Ensemble widmet. Es ist bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt.

Die alte Geschichte könnte genauso gut heute spielen

In Johannes Schütz’ kastenartiger Bühnenlandschaft entwickelt sich in (etwas zu lang geratenen) vier Aufführungsstunden das Drama um den lethargischen Nicolaj Iwanow wie auf einer Experimentierbühne des Existenzialismus’. Anklänge an den russischen Hintergrund der Story mögen da sein, aber in Wirklichkeit wird eine Geschichte aufgeblättert, die genauso im Heute wie in jeder anderen Zeit spielen könnte.

Szene mit Jele Brückner (Anna Petrowna), Jens Harzer (Iwanow) und Thomas Dannemann (Borkin, v. li.)
Szene mit Jele Brückner (Anna Petrowna), Jens Harzer (Iwanow) und Thomas Dannemann (Borkin, v. li.) © Monika Rittenhaus

Johan Simons erkennt in „Iwanow“ das Motiv der Einsamkeit als zentral für die menschliche Existenz. Die Langeweile, von der sämtliche Figuren gequält werden, fließt nicht so sehr aus den Umständen (kein Geld, verlorene Liebe, abgesoffene Ideale), sondern aus dem kompletten Fehlen einer übergeordneten Sinngebung.

Existenzialistische Fragen werden aufgeworfen

So gesehen, ist dieser „Iwanow“ Albert Camus’ Mersault aus „Der Fremde“ sehr nahe. Auch wenn ihn nicht die grelle Sonne Algeriens blendet, sondern der trübe Nebel Russlands die Sicht nimmt.

Tschechows filigrane Sprachkunst (schlank übersetzt von Angela Schanelec) und fein getuschte Personenzeichnung leuchten umso intensiver, je mehr man Schauspieler hat, die das unaufgeregt umsetzen können. Bochum hat sie!

Jens Harzereignet sich den Titel-Antihelden mit nervöser Überspanntheit an. Nach dem Studium war Iwanow voller Tatkraft, längst aber ist alle Energie verpufft. Und er weiß nicht, warum und wohin. Fahrig, gedankenvoll, gleichgültig und voll Selbstmitleid erklärt er sich selbst zum „überflüssigen Menschen“; man schaut Harzer dabei fasziniert zu.

Alle verharren in Stille und Untätigkeit

Weder bei seiner todkranken Frau (von müder Traurigkeit: Jele Brückner) oder der jungen Sascha (agil und lustvoll: Gina Haller) findet er Trost, schon gar nicht bei seiner Entourage wie dem spielsüchtigen Steuereintreiber Kosych (rappelig: Konstantin Bühler) oder dem Gutsverwalter Borkin (trinkfest: Thomas Dannemann). Am Ende erschießt er sich. Die anderen verharren in Stille und Untätigkeit.

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Die bleierne russische Schwermut (тоска) wird so zum Symbol der Unfähigkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen – eine aus Ratlosigkeit gespeiste Unlust, die man auch heute noch findet. Gerade deshalb geht uns Johan Simons’ „Iwanow“ nahe. Weil er enthüllt, was Sascha einmal rhetorisch ans Publikum, also an uns alle, adressiert: „Versteht hier eigentlich irgendeiner sich selbst?!“ – Wohl kaum.

Termine & Karten:

Termine 22., 26., 27. Januar, 9., 12., 15., 22., 23. Februar. Karten 0234/3333 5555

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