Bochum. Blick zurück ohne Nostalgie: An der Ruhr-Uni untersucht der Historiker Jan De Graaf das Werden der Gesellschaften in Europa in den 1950er Jahren.

Wenn wir heute an die 50er Jahre zurückdenken, dann fallen uns Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, Peter Kraus und Rock’n’Roll, Nierentische und der Borgwardt „Isabella“ ein. Der Blick zurück ist nostalgisch aufgeladen, das vorherrschende Gefühl scheint zu sein: Nach Depression und Zweitem Weltkrieg ging es endlich wieder aufwärts.

„Wohlstand für alle“

Es scheint eine einzigartige Zielstrebigkeit gegeben zu haben, Wohlstand für alle und eine gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen. Aber stimmt das überhaupt? Dieser Frage geht ein neues Forschungsprojekt am Institut für Soziale Bewegungen der Ruhr-Uni nach.

Dr. Jan De Graaf (*1986) fühlt der Epoche, die vor 60 Jahren zu Ende ging, auf den Zahn: Mit dem mit 1,64 Millionen Euro dotierten Sofja-Kovalevskaja-Preis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung baut der niederländische Geschichtswissenschaftler am ISB eine Arbeitsgruppe dazu auf. Grundsätzlich geht es um die Frage: Was hat unser Bild der Zeit mit der Wirklichkeit von damals zu tun?

Der Historiker Jan De Graaf baut am Institut für soziale Bewegungen der RUB eine Arbeitsgruppe zur Gesellschaftsstruktur der 50er Jahre auf  
Der Historiker Jan De Graaf baut am Institut für soziale Bewegungen der RUB eine Arbeitsgruppe zur Gesellschaftsstruktur der 50er Jahre auf   © rub | Tim Kramer

„Der sogenannte ,Nachkriegskonsens’ hat in den Augen vieler Historiker ermöglicht, was ,Große Gesellschaften’ genannt wird: gerechtere Gesellschaften, die auf gegenseitigem Vertrauen und verbesserten Lebenschancen basierten“, so Prof. Stefan Berger, Leiter des Instituts.

Umfassende Studie

Jan de Graaf will diese verbreitete Zeiterzählung hinterfragen, denn tatsächlich sind die Gesellschaftsentwicklungen der 50er Jahre in Europa erst wenig analysiert worden. „Ich plane die erste umfassende Studie zu Zusammenhalt und sozialer Mobilität - also der Verbesserung der Lebensbedingungen - der Nachkriegszeit“, so De Graaf. Dem jungen Forscher scheint dies das Schlüsselthema zu sein, das das Bild der Fünfziger bis heute prägt.

Autoboom und Reisewelle

Die Verbesserung der Lebensqualität lässt sich an vielen Faktoren ablesen. Man denke an die verbesserten Wohnungsbedingungen, die durch moderne Neubauten nach dem Krieg entstanden. Oder an die stetig kürzer werdenden Werkzeiten, die „dem Arbeiter“ und seiner Familie zunehmend mehr Freizeit und Lohn brachten; Stichworte: Autoboom und Reisewelle. Oder an die losbrechende Jugendkultur im Geiste von James Dean, die vom Rock’n’Roll befeuert wurde. Erstmals in der Geschichte wurden Jugendliche damals als soziale Gruppe identifiziert und damit in den Blick auch wirtschaftlicher (Konsum)-Interessen genommen.

Der Preis

Mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gestifteten Sofja-Kovalevskaja-Preis zeichnet die Humboldt-Stiftung Spitzenleistungen von vielversprechenden Nachwuchswissenschaftler/innen aus dem Ausland aus.

Der Preis soll durch den Aufbau einer eigenständigen Nachwuchsgruppe an einer Forschungsinstitution in Deutschland den Einstieg in die wissenschaftliche Karriere in Deutschland ermöglichen.

Die Auszeichnung ist benannt nach Sofja Wassiljewna Kowalewskaja, einer russischen Mathematikerin. Sie wurde 1884 an der Universität Stockholm die weltweit erste Professorin für Mathematik, die selbst Vorlesungen hielt.

De Graafs Hypothese lautet: Das alles fiel nicht vom Himmel. Vielmehr beruhe der sich von 1945 bis 1960 formende Nachkriegskonsens auf Auseinandersetzungen. Zwischen alten und neuen Eliten, Männern und Frauen, Jungen und Alten, in die Städte zugereisten Menschen und den dort schon etablierten Gemeinschaften, ländlichen und städtischen Interessen. „Unsere Forschungsgruppe wird ganz Europa in den Blick nehmen und unter anderem untersuchen, wie staatliche Akteure im kommunistischen Osten und im kapitalistischen Westen zunächst verschiedene Gruppen in diesen Kämpfen unterstützten“, so de Graaf.

Zwischen West und Ost

Denn das Wiedererstarken etwa der Bundesrepublik, und damit die Prosperität der hiesigen Gesellschaft, kann nicht außerhalb der damals gegebenen politischen Rahmenbedingungen betrachtet werden. Letztlich waren „BRD“ und „DDR“ Produkte des Kalten Krieges, also des Interessenkonflikts zwischen der kapitalistischen USA und dem kommunistischen UdSSR.

So wollen die Forscher um Jan De Graaf nicht nur Parallelen zwischen Gesellschaften diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs aufdecken, sondern auch die verbreitete Ansicht eines Goldenen Zeitalters für europäische Gesellschaften in der Nachkriegszeit auf die Probe stellen.