Bochum. . Anekdoten und Geschichten, die sich um das Bochumer Theater drehen, begründen den „Mythos Schauspielhaus“. Einen gab es, der kannte sie alle.

Wer das Schauspielhaus liebt, dem fallen nicht nur maßgebliche Inszenierungen, Schauspieler und Regisseure ein, sondern auch jede Menge Geschichten. Nicht zuletzt sie sind es, die den „Mythos Schauspielhaus“ befeuert haben. Niemand ist vor solchen Geschichten, die zur Historie einer jeden Bühne gehören, gefeit. Auch Intendanten sind es nicht. Beispiel: Elmar Goerden. Der Ex-Oberspielleiter des Residenztheaters in München erzählte gern die Anekdote, er sei als Jugendlicher einst nach Bochum getrampt, um Claus Peymanns „Hermannsschlacht“ zu sehen – und habe danach beschlossen, selbst zum Theater zu gehen.

Ganz große Erzählung

„Dichtung und Wahrheit“ ist ein faszinierendes Paar, es trieb bekanntlich schon Goethe um. Und den US-Western. „Wenn die Wahrheit zur Legende geworden ist, druck’ die Legende!“, heißt es in „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“. Einer, der diese Haltung perfektioniert hat, ist der österreichische „Kunstlügner“ Hans-Peter Litscher. 2013 richtete er „Mit Herz und Hund und Kunst und Leben“ eine höherblödsinnige Hommage ans Schauspielhaus ein; es war eine ganz große Erzählung zum BO-Mythos. „Kommen’S! Kommen’S näher!“, säuselte Litscher immer wieder, und hechelte von Vitrine zu Vitrine, wo er den sprachlos-erheiterten Besuchern Anekdoten und Assoziationen mit der Autorität des All-Wissenden vortrug.

Legendärer Boxerhund

Der Künstler Hans-Peter Litscher führte das Publikum im Juni 2013 hinter die Kulissen auf der Suche nach dem „Mythos Schauspielhaus“.
Der Künstler Hans-Peter Litscher führte das Publikum im Juni 2013 hinter die Kulissen auf der Suche nach dem „Mythos Schauspielhaus“. © Gero Helm

So führte dieser bärtige Münchhausen einen präparierten Boxerhund namens „Zadek“ vor, den sich Rainer Werner Fassbinder angeschafft hatte, um eine Vertragsauflösung vom Intendanten Peter Zadek zu provozieren. Die beiden Alpha-Männchen konnten nicht miteinander, weshalb Fassbinder seinen Rüden wirklich so genannt hatte. „Zadek, sitz!“, „Zadek, hierher!“. Der echte Zadek war nicht amüsiert. Auf diesen oft kolportierten Mythos ließ Litscher weitere irrwitzige Geschichten folgen. Gab es wirklich mal einen Kirsten-Dene-Kostümfetischisten-Verein in Bochum? Und lag da hinter Glas nicht jenes Bass-Saxofon, das Heiner Goebbels bei Peymanns legendärer „Hermannsschlacht“ blies? – Es war es tatsächlich!

Kaum zu glauben, trotzdem wahr

Wenn es nicht gut erfunden klingt, dann ist es zumindest wahr: Für BO-Theaterkenner war der Rundgang ein toller Witz, ironisch, sentimental, intellektuell, pointiert.

Einem anderen Experten wäre dieser postmodern-ironische Ansatz wohl zu „schnöde“ vorgekommen. Die Rede ist von Kurt Dörnemann (1913-2009): Er war Theatergänger und -kritiker seit den 1920er Jahren, und wenn es jemanden gab, der ALLES über das Schauspielhaus wusste, dann war es Kurt. Es genügte, ihm ein, zwei Schauspieler-Namen wie Willi Busch oder Helga Siemers anzubieten, und der Abend war gerettet.

Dörnemann wusste zu so gut wie jeder Inszenierung aus 50 Jahren etwas zu sagen, und er kannte so viele Stories und Dönekes, dass es kaum zu glauben war. Manche sind in seinen Büchern, die heute vergriffen und gefragte Sammlerstücke sind, überliefert.

Typen und Charaktere

Theaterpersönlichkeit: Der Schauspieler Otto Sander erhielt 2014 den ersten „Bernhard-Minetti-Preis“ des Freundeskreises Schauspielhaus.
Theaterpersönlichkeit: Der Schauspieler Otto Sander erhielt 2014 den ersten „Bernhard-Minetti-Preis“ des Freundeskreises Schauspielhaus. © Lutz Leitmann

Dass es zuletzt mit der Mythenbildung etwas nachließ, hat sicher auch damit zu tun, dass es diese knuffig-knurrigen Theatertypen von einst nicht mehr gibt. Charaktere und Persönlichkeiten wie Traugott Buhre, Tana Schanzara, Otto Sander sind selten geworden auf Deutschlands Bühnen. Möglicherweise kommt einem auch deshalb der „Mythos Schauspielhaus“ in den letzten Jahren als etwas blutarm vor. Oder erinnert sich jemand an eine gute Anekdote, die man mit Anselm Weber verbindet?

„Sicher!“, entgegne ich: Einmal erzählte der Intendant, wie er nach neuen Leuten für sein Ensemble suchte. Und Torsten Flassig, einen aufstrebenden Darsteller, der später mit nach Frankfurt ging, zum Vorsprechen empfing. Woraus Flassig denn vorsprechen wolle, fragte Weber. „,Kabale und Liebe’“, meinte der. „Also den Ferdinand!“, stand für Weber fest. Torsten Flassig grinste: „Nee, die Luise!“ Er spielte Anselm Weber die Frauenrolle perfekt vor – und bekam das Engagement.

>>> Saladin Schmitt und der „Amüserpöbel“

Gründungsintendant des Schauspielhaus anno 1919, Saladin Schmitt (1883-1951), war Künstler durch und durch. Kunst und Leben zu trennen, wäre ihm als absurd erschienen.

Er stellte hohe Ansprüche an sich selbst, an seine Schauspieler und besonders ans Publikum. An nichts weniger war ihm gelegen, als die arbeitende Bochumer Bevölkerung in die geistige Welt der Klassik einzuführen. Doch da geschah es bei der Premiere von Goethes „Iphigenie“, dass die Besucher ein wenig unruhig waren. Sie schienen nicht ganz bei der Sache zu sein. Also trat Saladin nach einem Aktschluss vor seine Gäste. Er machte eine formvollendete Verneigung und sagte: „Sollte sich im Hause Amüsierpöbel befinden, so möge er doch heimgehen.“ Noch eine formvollendete Verneigung, und er verschwand wieder hinter dem Vorhang.

Saladin Schmitt, Theaterleiter 1919 bis 1949.
Saladin Schmitt, Theaterleiter 1919 bis 1949.

Einmal wurde er in einem Prozess als Zeuge gehört. Der Richter setzte ihm den Fall auseinander, bemerkte aber, dass Schmitt ihn offenbar gar nicht zuhörte. „Herr Professor, Herr Professor! Ich habe das Gefühl, als interessiere Sie die ganze Sache gar nicht.!“

„Verzeihen Sie bitte gütigst, verehrter Herr Präsident... Ich überlege nur die ganz Zeit, welche Rolle Sie bei mir spielen könnten!“

>>> Tana Schanzara, ein Unikum mit Herz

Was wären Anekdoten aus dem Schauspielhaus ohne Tana Schanzara? „Unsa Tana“ (1925-2008) gehörte seit 1956 treu und fest zu Bochum und wurde nirgendwo sonst so verehrt wie hier. Sie war ein Unikum – und eine große Schauspielerin und Sängerin. Als Mutti aussem Ruhrpott war sie um Schlagfertigkeit und flotte Sprüche nie verlegen. Ihre Aufforderung: „Ach, Schätzken, getz komma bei mich bei...!“ ist sozusagen sprichwörtlich geworden.

Viel gefragte Künstlerin: Autogrammstunde mit  Tana Schanzara im Schauspielhaus.
Viel gefragte Künstlerin: Autogrammstunde mit Tana Schanzara im Schauspielhaus. © Ingo Otto

Auch Leander Haußmann bekam zu Beginn seiner Intendanz mit, dass Tana speziell war: Sie sprengte gleich die erste Probe des Intendanten. Sie kam zu spät und polterte in den Saal. Als der neue Chef, fast 40 Jahre jünger als die Schauspielerin, sie entgeistert anguckte, meinte Tana: „Entschuldigung, aber Du kannst aus einer Bäuerin eben nicht in 20 Minuten eine Diva machen!“. Großes Gelächter! Tana besorgte erstmal 40 Pizzen und ein paar Kästen Wein. Damit war das Eis gebrochen.