Bochum. Mit minus 20 Prozent ist Grumme das Schlusslicht bei der Einwohnerentwicklung in Bochum. Doch als Verlierer fühlt sich in dem Stadtteil niemand.

An Marie-Luise und Christian Goeke liegt’s nun wahrlich nicht. Der kleine Otto, ihr zweites Kind, erblickte vor eineinhalb Monaten das Licht der Welt. Grumme hat seither einen Bürger mehr – und rangiert in der Einwohnerstatistik dennoch am Tabellenende.

„Gibt’s doch gar nicht“, staunen die Goekes angesichts des Zahlenwerkes der Stadt. Gibt’s wohl: Seit 1981 hat Grumme 20,62 Prozent seiner Einwohner verloren. Ein stadtweites Rekordminus, knapp vor Westenfeld und Kornharpen. Warum? Die alteingesessenen Gastronomen bekräftigen: Die Rote Laterne signalisiere keinesfalls einen Abwärtstrend. Die aktuell 13.107 Grummer lebten nach wie vor gerne in ihrem Stadtteil. Nur halt anders als noch vor 37 Jahren. Mit weniger Bewohnern auf mehr Wohnfläche. Auch da lügt die Statistik nicht.

Hohe Einkommen, wenig Arbeitslose

Hohes Jahreseinkommen (31.500 Euro), niedrige Arbeitslosen- (5,7 Prozent) und Migrationsquote (16,3 Prozent): Das Viertel zwischen Stadtpark und A 43 gilt im Vergleich der Bochumer Ortsteile als wohlhabend, gut situiert, angesagt. „In Grumme gibt es besonders viele Eigenheime“, weiß Bezirksbürgermeisterin Gabriele Spork – und macht genau hier die Ursache für den Einwohnerschwund aus. „Zahlreiche ältere Menschen sind heute in Wohnungen und Häusern daheim, in denen sie früher mit ihren Kindern gelebt haben.“

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Die Jungen sind längst weg. Die Alten sind geblieben. Gabriele Spork erlebt das hautnah. Ab dem 90. Geburtstag beglückt die Ehrenamtlerin im Namen der Stadt Jubilare mit Blumen und Grußkarte. „In Grumme besuche ich dabei besonders viele Senioren, die allein in ihrem Haushalt leben. Dieses Bild bietet sich mir sonst nur noch in Altenbochum.“

Beliebt auch bei Singles und Paaren

Hinzu komme: Die schmucken und nicht ganz billigen Bleiben, etwa am Stadtpark oder an den Grummer Teichen, seien vor allem bei gut verdienenden Singles und Paaren beliebt. Folge: Die Zahl der Haushalte mit Kindern ist geschrumpft; in der Einwohnerstatistik der Stadtverwaltung ging’s rapide bergab.

Christian Goeke, in vierter Generation Chef des 1896 gegründeten Traditionsgasthauses an der Josephinenstraße, bestätigt die Analyse der Bezirksbürgermeisterin. „Wir und viele meiner Freunde sind damals in Drei-Raum-Wohnungen mit 70 Quadratmetern groß geworden. Da hatte längst nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer“, erinnert sich der 41-Jährige. Wo früher Großfamilien zu Hause waren, lebten heute oft nur noch Vater und Mutter.

Klicken Sie in der Karte unten auf eines der Tropfen-Symbole, um die Karte nach dem jeweiligen Kriterium einzufärben (Stand: 31.12.2016). Rot steht für viel, blau für wenig. Wenn Sie in der Karte auf einen Stadtteil klicken, öffnet sich ein Info-Fenster mit Kennziffern zu diesem Viertel. Der Klick auf den blauen Stadtteilnamen führt zur passenden Datensammlung für den Stadtteil. Zum Spezial.

Früher gab es sieben Kneipen

Die Lebensumstände im einst von der Zeche Constantin geprägten Ortsteil haben sich verändert. „Früher gab’s hier sieben Kneipen, alle rappelvoll“, blickt Heinz-Hugo Goeke (89) zurück. Sein urig-rustikales Gasthaus zählt zu den raren Überlebenden.

Die Kumpel-Herrlichkeit ist Geschichte. Den dörflichen Charakter habe Grumme aber beibehalten. „Die Strukturen sind intakt. Hier kennt noch jeder jeden“, sagt Marie-Luise Goeke. Nahe an der pulsierenden Innenstadt, lebe es sich im Viertel nach wie vor beschaulich. Das Gemeindeleben funktioniere. „Das Glück ist, dass viele Kinder zwar ihr Elternhaus, nicht aber unseren Stadtteil verlassen und sich etwas Eigenes aufgebaut haben“, beobachtet die 35-Jährige. Mit wieviel Liebe man dabei zur Sache geht, zeigen die Renovierungsarbeiten der Heimwerker, die jetzt im Frühjahr vielerorts in den Häusern und Gärten zu sehen sind.

Hohe Preise werden bezahlt

Auch für Neubürger sei Grumme „hochattraktiv“, sagen die Goekes ebenso wie Bürgermeisterin Spork. Stadtnah und doch ruhig. Und das zu noch bezahlbaren Kursen. Das Internetportal „Immobilienscout“ weist für Grumme eine Durchschnittsmiete von 6,80 Euro/Quadratmeter aus. Eigentumswohnungen gibt’s ab 1700 Euro/Quadratmeter, ein Haus wird ab 350.000 Euro zum Kauf angeboten. In Premium-Lagen müsse man allerdings erheblich mehr Kapital aufbringen, wissen Christian und Marie-Luise Goeke. „Die Preise in Grumme sind stark gestiegen. Aber: Sie werden auch bezahlt.“

Fazit: Die Statistik trügt. Der Verlust an Einwohnern geht in Grumme keinesfalls mit einem Verlust an Lebensqualität einher. „Im Gegenteil“, kontert Gabriele Spork und glaubt, der Trend werde sich umdrehen. „Ich bin sicher, dass die vielen schönen Wohnungen im Stadtteil bald wieder vermehrt von Familien mit Kindern bewohnt werden.“

Auf 15,6 Prozent Haushalte mit Kindern bringt es Grumme derzeit. Da ist noch Luft nach oben. Die Goekes haben das Ihre getan, um auch diese Statistik zu verbessern.

>>Einwohnerentwicklung: Der Kleinste ist der Größte

Der Kleinste ist der Größte: Das Gleisdreieck beweist bei der Zahl seiner Bewohner Konstanz – und findet sich damit auf Platz 1 der Einwohnerstatistik wieder.

Anders als fast alle Bochumer Ortsteile hat das City-Quartier zwischen Rathaus, Brückstraße und Ostring kaum Einbußen zu verzeichnen. 9364 Bürger waren’s vor 37 Jahren, 9342 Einwohner sind’s aktuell: ein stadtweit unerreichtes Mini-Minus von 0,23 Prozent.

Wohnverhältnisse kaum verändert

Warum der flächenmäßig kleinste Stadtteil (1,26 Quadratkilometer) die Nase vorn hat? „Weil sich hier im Stadtzentrum bei den Wohnverhältnissen vergleichsweise wenig verändert hat“, glaubt Bezirksbürgermeisterin Gabriele Spork (SPD). Während etwa in Grumme in immer mehr Wohnungen nur noch die Eltern einer einst reichen Kinderschar leben, hat es diesen Nachwuchs im Gleisdreieck so nie gegeben. Mit mageren 10,5 Prozent bildet der Ortsteil das Schlusslicht bei den Haushalten mit Kindern (stadtweit 16,7 Prozent).

© Ingo Otto

Die Folge war und ist, dass sich nicht nur beim Wohnungsbestand, sondern auch bei der Zahl der Bewohner kaum etwas getan hat. Die durchschnittliche Wohnfläche ist mit 64,6 Quadratmetern und einer Miete von 6,40 Euro (laut „Immobilienscout“) vor allem für junge Leute, gern auch in einer Wohngemeinschaft, vollkommen ausreichend und überschaubar. „Gerade sie schätzen die Anbindung an den Nahverkehr, die Nähe zum Einkaufen und zum Bermudadreieck“, so Spork. Für ältere Leute sei die Fußläufigkeit zu Ärzten wichtig. Für beide Gruppen gelte: Wenn man einmal hier ist, will man nicht weg.

Bandbreite der Lebensstile

Die Unterstützung von Spork finden Pläne der Stadt, das Wohnen im Gleisdreieck zu forcieren. In einer „Vision 2030“ werden dem urbanen Wohnquartier beste Perspektiven eingeräumt. Dabei sei wichtig, „die Bandbreite der Lebensstile“ zu vergrößern: etwa „mit ungewöhnlichen Wohnungsgrößen, Dachnutzungen oder einem hohen Anteil an Gemeinschaftsfläche“.