Bochum. . Nirgendwo in Bochum ist die Arbeitslosigkeit höher als in Wattenscheid, nirgendwo niedriger als in Stiepel. Ein Blick auf die Gegensätze.
Wann der Abwärtstrend begann, ist schwer zu beurteilen: mit dem Aus der Zeche Holland 1974, mit dem Abstieg der SG 09 aus der 1. Bundesliga 1994, mit der Schließung des Kaufhauses Horten 1997? Das alles hat Wattenscheid heruntergezogen – vor allem seine einst gutbürgerliche Mitte. Und, da gibt es im Bezirk kaum eine zweite Meinung: Mit der Eingemeindung 1975 ist eine ganze Stadt in die falsche Spur geraten.
Heute ragt ein Teil Wattenscheids unrühmlich hervor: Nirgendwo sonst in Bochum ist der Arbeitslosenquotient, das Verhältnis zwischen der Zahl der Arbeitslosen und der Einwohnerzahl, so hoch wie in Wattenscheid-Mitte. 15,3 Prozent waren es im September 2017. In Stiepel, 14 Kilometer weiter südlich, waren es 2,8 Prozent. Zwei Stadtteile, zwei Extreme, zwei Welten. Frei nach Bernt Engelmann und Günter Wallraff: „Ihr da oben, wir da unten“.
1970 lag die Arbeitslosenquote bei 0,8 Prozent
Rückblick: 0,8 Prozent betrug die Arbeitslosenquote in Wattenscheid 1970. Gerade einmal 200 Männer und Frauen waren ohne Job. Die Wirtschaft brummte. Und Wattenscheid brummte mit. „Da war die Zeche Holland mit einigen Tausend Beschäftigten“, erinnert sich Manfred Molszich, der damals als Werkzeugmacher beim Möbelhersteller Fleischer angefangen hat und der heute Bezirksbürgermeister ist.
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Arbeitsplätze bei Blum, Schwarz und Steilmann
Bei Blum arbeiteten 600 Beschäftigte in drei Schichten in der Elektrobranche. Ebenso viele schafften beim Bergbauzulieferer Schwarz. Und dann war da ja auch noch der Modeunternehmer Klaus Steilmann, der vor allem hunderten Näherinnen Lohn und Brot gab.
„Anders als heute gab es produzierendes Gewerbe in nennenswerter Größe“, sagt Manfred Molszich. Und es gab reichlich Beschäftigung auch für Geringqualifizierte und Ungelernte. Jobs, die in der heutigen Arbeitswelt so gut wie nicht mehr vorkommen. Wo, wie in Wattenscheid, immer mehr dieser wenig qualifizierten Frauen und Männer aufwachsen oder hinziehen, da wächst die Arbeitslosenquote.
Unternehmen angesiedelt: Haribo, Miele, Hako
Daran konnte auch die einstige Weitsicht nichts ändern. „Ich glaube, wir waren die erste Stadt, die eine Wirtschaftsförderung hatte“, sagt der Bezirksbürgermeister. „Damit waren wir auf einem guten Weg.“
Die Stadt wollte sich wappnen für die Zeit nach der Kohle. Lueg errichtete seine Nutzfahrzeugfabrik an der Burgstraße, Kano baute in Wattenscheid seine Küchen. Es folgten Haribo, Miele, Hako. Vieles davon ist heute Geschichte.
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Wobei: „Schon früher sind 60 Prozent der Beschäftigten aus Wattenscheid ausgependelt und haben woanders gearbeitet – bei Opel in Bochum, bei Krupp in Essen oder anderswo“, weiß Manfred Molszich. Arbeit und Arbeitsplätze vor Ort habe es so wie in jeder anderen Stadt im Revier nie genug für alle gegeben. Und heute sind sie so weit davon entfernt wie die SG 09 von der Rückkehr in die Bundesliga.
Aber die Gründe für die hohe Zahl der Arbeitslosen allein in Mitte, 2017 waren es 1846, liegen noch woanders. „Die Einwohnerstruktur hat sich gravierend geändert“, so Molszich.
Das liege auch an der Gebäudequalität. Nicht alle Eigentümer im Zentrum halten ihre Häuser in Schuss. „Menschen, die es sich leisten können, ziehen woanders hin. Wenn in die freien Wohnungen nicht investiert wird, kommen Menschen mit geringerem Einkommen“, sagt Verwaltungsstellenleiter Karl-Heinz Kayhs. Von der einst belebten Fußgängerzone mit inhabergeführtem Einzelhandel und Eigentümern, die über dem Geschäft wohnen, sei nicht mehr viel übrig.
„Wattenscheid ist trotz allem lebenswert“
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Eine Abwärtsspirale. Molszich: „Es gibt einige Negativfaktoren, die sich vereinen.“ Mittlerweile werde der Stadtteil Mitte unter dem Sozialcluster 4 eingeordnet. „Das ist deutlich an der untersten Grenzen dessen, was eine Stadt vertragen kann“, sagt der Bezirksbürgermeister mit sorgenvoller Miene. Das sei auch einer der Gründe dafür, warum das Integrierte Stadtentwicklungsprojekt aufgelegt worden sei. Es soll unter anderem dazu beitragen, Immobilieneigentümer zu animieren, etwas für ihr Eigentum zu tun und damit auch den gebeutelten Stadtteil wieder aufzuwerten.
Zumal Wattenscheid noch ein Problem hat. Sein Image: „Was willst Du denn da? bekommen Leute häufig zu hören, wenn sie hier hinziehen oder sich ansiedeln wollen“, sagt Karl-Heinz Kayhs. Das sind die, die nicht wissen, dass Wattenscheid auch andere Ecken hat: Eppendorf, Leithe. Orte, die stellenweise so schmuck wie Stiepel anmuten. Wie auch immer. Manfred Molszich hält die Fahne seines Bezirks und auch die seines „Problem-Stadtteils“ hoch: „Wattenscheid ist trotz allem lebenswert“, sagt er. Und es sagt es aus Überzeugung.
Wohlstand ist zum Markenzeichen des Südens geworden
Welch ein Blick. Wer von der Dorfkirche in Stiepel hinunter auf die Ruhr blickt, dem geht das Herz auf. Unweigerlich kommt dem Besucher der Spruch in den Sinn: Leben, wo andere Urlaub machen.
Die Idylle und die geografische Lage ist ein Grund für die hervorgehobene Stellung des südlichsten Stadtteils Bochums. Hier gab es keine Zechen, die dicht gemacht haben; kein produzierendes Unternehmen, das in die Insolvenz gerutscht ist. Hier wohnen viele Menschen mit höherem Einkommen, mit höherer Bildung und mitunter auch mit besonderem Selbstbewusstsein. „Mir san mir“ ist eine Haltung, die auch im Süden Bochums anzutreffen ist.
Ursachenforschung. „Was in Stiepel in den letzten zwei, drei Jahrzehnten deutlich geworden ist, ist eine Tendenz zur Entmischung“, sagt Klaus Thormählen. Der 78-Jährige war einst Bezirksvorsteher, lebt seit 50 Jahren im Stadtteil und hat seine Entwicklung begleitet.
Bäuerliche und Arbeitertradition sind verschwunden
Er weiß: Von der bäuerlichen Tradition und der Arbeitertradition jener Jahre, als viele Stiepeler auf der Henrichshütte drüben auf der anderen Ruhrseite in Hattingen gearbeitet haben, ist nicht mehr viel geblieben. An ihre Stelle sind mit dem Bau der Ruhr-Universität erst Bildungs- und längst auch Wohlstandsbürger getreten.
Wer etwas auf sich hielt, zog nach Stiepel. Und tut es auch heute noch. Unternehmer, Politiker, Professoren. Es gibt nur wenig gesellschaftliche Durchmischung. Auch deshalb, so der frühere Lehrer, weil die Stadt kaum eigene Grundstücke besessen habe und als Korrektiv wenig eingreifen konnte. „Da hat es eine ungeordnete Ansammlung von wohlhabenden Leuten gegeben.“
Hoffen auf Bebauung der Unterfelderstraße
Was etwa dazu geführt hat, dass die Preise für Boden und Immobilien in die Höhe geschossen sind. „Hier kann keiner mehr ein Grundstück erwerben, der von seiner Hände Arbeit lebt“, sagt der Mann, der aus dem Arbeitermilieu in Laer stammt, aber längst heimisch in Stiepel geworden ist.
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Er hofft immer noch, dass sich die einst von der Bezirksvertretung abgelehnte Bebauung an der Unterfelderstraße oberhalb des Kemnader Sees, wo die Stadt eine große Fläche besitzt, noch gelingt „und vor allem junge Familien hierhin ziehen können“. Es würde den Stadtteil bereichern und das Nord-Süd-Gefälle, das in Bochum wie auch in anderen Städten des Reviers besteht, mildern.
Derweil liegt dem früheren SPD-Politiker, der sich seit langem in der evangelischen Gemeinde engagiert, am Herz, die Menschen gerade im Stadtteil auf ihre privilegierte Lage aufmerksam zu machen. „Diese Form der Entmischung hat für mich auch die Verpflichtung, den Leuten das bewusst zu machen.“ Im aktuellen Gemeindebrief haben er und seine Mitstreiter die Armut zum Schwerpunktthema gemacht. „Um sensibel zu machen“, wie Klaus Thormählen sagt.