Bochum. . Deutschland wird immer dicker. Der WAZ-Medizindialog beleuchtete die mitunter verhängnisvolle Wechselwirkung zwischen Fettleibigkeit und Psyche.
Und ewig lockt der Kühlschrank: Jeder fünfte Deutsche ist deutlich zu dick. Dass Zu- und Abnehmen oft reine Kopfsache ist, zeigte am Dienstagabend der WAZ-Medizindialog auf. Vor über 100 Leserinnen und Lesern im St. Josef-Hörsaalzentrum beleuchteten drei Fachärzte das Wechselspiel zwischen Fettleibigkeit und Psyche. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie verbreitet ist Übergewicht?
Die Deutschen legen immer mehr zu. 21,6 Prozent der Frauen und 19,9 Prozent der Männer gelten mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 30 als adipös. Bis 2020 könnten es 30 Prozent sein – mit allen gravierenden gesundheitlichen Folgen und Risiken, warnt Prof. Dr. Stephan Herpertz, Direktor der LWL-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Dabei sei mäßiges Übergewicht durchaus förderlich: „Mit einem BMI von 25 bis 26 hat man die längste Lebenserwartung.“
Ist Adipositas ausschließlich eine Frage der Ernährung?
Nein. Auch Erkrankungen wie Diabetes, ADHS (bei Kindern und Jugendlichen) und Medikamente (vor allem Cortison und Psychopharmaka) können zur Fettleibigkeit führen. Meist sind es aber Essstörungen, die sich auf der Waage gnadenlos bemerkbar machen. Von der „Macht der Seele über den Körper“ spricht LWL-Chef Prof. Dr. Juckel.
Ist dieser „Macht“ zu begegnen?
Tief in unserem Gehirn sitzt ein „Lustzentrum“ (Juckel), das ständig nach süß-fettiger Befriedigung giert. Schon Kinder lernen: Pommes, Chips, Schokolade oder Cola (möglichst Markenware!) verheißen besonders wohlige Gefühle. Also: rein damit, gerne auch als Belohnungs- oder Frust(fr)essen mit wahren Kalorienorgien. Wer das Verlangen ständig neu stillt, sich zudem kaum bewegt, droht alsbald zum Adipositas-Patienten zu werden. Disziplin und Einsicht sind gefragt. Denn: „Es gibt noch keine Programme oder Therapien, die das Lustzentrum gezielt ausschalten. Das wird noch Jahre dauern“, erklärt Prof. Juckel.
Was richtet Adipositas in der Seele der Menschen an?
Prof. Herpertz legt eine erstaunliche Studie vor. Frauen mit Rubens-Figuren leiden sehr häufig an Depressionen: verzweifelt und ratlos ob ungezählter Diätversuche. „Sie erleben sich als dauernd Scheiternde.“ Die gesellschaftliche Stigmatisierung sei bei Frauen ausgeprägter als bei den Männern, die mit ihren Wampen - meist depressionsfrei - wunderbar leben können. Verhängnisvoll: Depressive Frauen greifen zu Psychopharmaka – und nehmen dadurch noch mehr zu.
Was halten die Seelen-Ärzte von den gängigen Abnehmmethoden?
Für Prof. Herpertz bergen sie ein falsches Versprechen. Wer zum Beispiel zu TV-beworbenen Diätdrinks greife, verliere zwar tatsächlich an Gewicht. Das halte in aller Regel aber nicht dauerhaft. „Man kann sich ja nicht ständig von diesen Produkten ernähren. 30 Jahre Almased funktioniert nicht.“ Folge: Nur 15 Prozent aller Menschen können ihre Gewichtsabnahme über mehr als fünf Jahre stabilisieren.
Was funktioniert denn dann?
Prof. Dr. Kemen, Chefarzt des EvK Herne, gab beim Medizindialog die wohl einzig richtige Antwort: „Durchhalten gelingt nur mit einer gravierenden Änderung des Lebenswandels, mit ausgewogener Ernährung und Bewegung.“
Operation kann zu neuer Lebensqualität verhelfen
Die allermeisten Diäten scheitern kläglich. Fünf von sechs Adipositas-Patienten, die Rat eines Psychologen suchen, müssen sich gleichfalls dem Jojo-Effekt geschlagen geben. Eine Operation wird da für immer mehr Übergewichtige zur Option.
Anders als die gängigen Verhaltenstherapien verspreche die Chirurgie eine dauerhafte Gewichtsabnahme, bekräftigte LWL-Direktor Stephan Herpertz beim WAZ-Medizindialog. Studien zeigten, dass es der großen Mehrheit der Patienten nach dem Eingriff besser gehe. „Die Depressionen verschwinden, die Lebensqualität in der Familie, im Job, beim Sex steigt“, spricht der Professor von einem „Erfolgsmodell“.
Prof. Dr. Matthias Kemen operiert als Chefarzt im Evangelischen Krankenhaus Herne regelmäßig Adipositas-Patienten. Unters Messer kommt, wessen BMI bei 40 und mehr liegt. Heißt zum Beispiel 140 Kilo bei einem Mann mit 180 Zentimetern Körpergröße, 112 Kilo bei einer 1,65 Meter großen Frau. Herkömmliche Therapien gelten bei dieser Gruppe als endgültig gescheitert. Oft haben die Menschen bereits mit Folgeerkrankungen zu kämpfen.
Magenband auf dem Rückzug
Das einst so gefragte Magenband sei in den Kliniken auf dem Rückzug, schildert Kemen. „Der durchschnittliche Gewichtsverlust liegt hier nur bei elf BMI-Punkten. Hinzu kommen häufige Komplikationen.“ Gängigste OP sei inzwischen der Schlauchmagen. Der Magen wird dabei auf einen drei bis vier Zentimeter großen Schlauch verkleinert; 80 Prozent des Verdauungsorgans werden entfernt. „Man isst deutlich weniger, weil weniger reinpasst“, so der Chefarzt. Gleichfalls bewährt habe sich der Magen-Bypass.
Beide Eingriffe gewährleisteten eine Gewichtsabnahme zwischen 55 (Schlauch) und 61 Prozent (Bypass), die lange wirkt. Aktuelle Untersuchungen dokumentieren, dass Bypass-Patienten ihr reduziertes Gewicht zehn bis 20 Jahren halten. Die Krankenkassen, „allen voran die Knappschaft“ (Kemen), würden die bis zu 8000 Euro teuren Eingriffe in den meisten Fällen bezahlen. Sonst müsse man klagen. Wichtig sei, dass der Hausarzt zustimmt: „Er ist es, der sich in der Nachsorge um den Patienten kümmern muss.“