Tokio/Essen. Turner Andreas Toba spricht im Interview über seine schwere Verletzung 2016, sein Comeback und seine Perspekiven für Tokio.
Für dieses Erlebnis würde Andreas Toba sogar in Kauf nehmen, bei seinem ersten Olympia-Auftritt in Tokio tags darauf ein bisschen müder zu sein. Der 30 Jahre alte Turner ist einer der fünf Kandidaten, unter denen an diesem Donnerstag der männliche Part der beiden deutschen Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele (Freitag, ab 12.10 Uhr/ZDF) ermittelt wird.
„Bei einer solchen Anfrage darf man nicht mit Nein antworten“, sagt der Turner, der sich am Samstag bereits mit der Mannschaft für das Finale qualifizieren will. Der Mehrkampf der Teams war das Ereignis, das Toba vor fünf Jahren in Rio de Janeiro bekannt gemacht hat. Ein Gespräch über plötzlichen Ruhm, was Helden ausmacht und seine Erwartungen an Tokio.
Herr Toba, haben Sie schon mal darüber nachgedacht, Ihren Vornamen im Personalausweis zu ändern?
Andreas Toba: Um Gottes Willen, wieso?
Es scheint so, als hätte Olympia-Held Ihren Vornamen ersetzt, jedenfalls liest man Andreas seltener als den Titel Hero de Janeiro, den Sie seit fünf Jahren innehaben.
Toba: Ach so (lacht). Ja, dieser Spitzname gehört seit fünf Jahren zu meinem Leben. Ich kann inzwischen auch gut damit umgehen und weiß, dass ich damit gemeint bin. Aber in meinem Ausweis? Ich glaube nicht, dass ich das darin stehen haben möchte.
Sind Sie mehr Held oder Pechvogel?
Toba: Held ist ein sehr starker Begriff, den ich im Zusammenhang mit mir und Rio nicht verwenden würde. Ich tendiere eher zum Pechvogel: Mit dem Wissen von heute hat es zwar uns als Mannschaft und der Sportart viel gebracht, aber das Ganze war schon extrem bitter.
Wer oder was sind Helden für Sie?
Toba: Das sind Menschen, die Leben retten, die sich für eine Sache weit mehr opfern, als ich das gemacht habe.
Was macht es heute noch mit Ihnen, wenn Sie an die Qualifikation in Rio zurückdenken?
Toba: Es hat damals sehr hohe Wellen geschlagen, wir Sportler haben dadurch in Rio viel Zuspruch erfahren. Für die Mannschaft ist es daher schon glimpflich ausgegangen, für mich persönlich war das natürlich ein Unglück. Die negativen Gedanken überwiegen, muss ich sagen. Ich war danach ein Jahr außer Gefecht gesetzt, hatte drei Operationen am und eine Infektion im Knie. Mich ärgert aber vor allem, dass ich die Rio-Spiele gar nicht mehr als solche wahrnehmen konnte. All das, worauf du dein Leben hinarbeitest. Vom olympischen Flair war für mich gar nichts mehr übrig.
Sie haben sich zu Beginn der Bodenübung das Kreuzband gerissen. Haben Sie gleich gemerkt: Autsch, da ist was kaputt gegangen?
Toba: Es war mehr ein Schreckmoment, als dass ich starke Schmerzen gehabt hätte. Das war alles auszuhalten. Ich dachte mir: Vielleicht ist etwas Kleineres gerissen.
Haben Sie sich selbst überreden müssen, noch am Pauschenpferd anzutreten, um die Mannschaft ins Finale zu retten?
Toba: Ich habe nach dem Sturz erst mal die Halle verlassen, lag in einer Umkleide auf einer Liege, als erst einmal ein Physiotherapeut auf mein Knie geschaut hat. Er wollte aber lieber einen Arzt dazu rufen. Ich habe in der Zeit versucht, das alles psychisch zu verarbeiten: Was bedeutet das jetzt für die Mannschaft? Die Vermutung lag nahe, dass es ein Kreuzbandriss war. Ich habe mein Knie etwas bewegt, ausprobiert, ob ich noch darüber die Kontrolle habe. Auf einem Bein konnte ich stehen, und es fühlte sich auch nicht so an, als sei das Knie dahin gewesen. Aber der Arzt kam dann, bestätigte die Vermutung, und unser Teamleiter brachte mir auch schon meine Tasche, da ich für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus sollte. Da habe ich gesagt: Können wir alles gerne machen, aber ich möchte vorher noch am Pauschenpferd turnen.
Und sind gleich für verrückt erklärt worden.
Toba: Ich sagte zum Arzt: Es muss doch wohl die Möglichkeit geben, das Knie so zu tapen, dass ich eine Landung aus eineinhalb Metern stehen kann. Das wurde dann auch gemacht, ich habe meine Tasche genommen und bin zurück in die Halle gegangen. Ich hatte in dem Moment gar kein Zeitgefühl mehr, hätte nicht sagen können, wie lange die Untersuchung gedauert hat oder ob der Wettkampf schon vorbei war. Ich musste mich dann beeilen, um mich auf dem Pauschenpferd noch einmal einzuturnen.
Wie konnten Sie dann wieder turnen?
Toba: Die Mannschaftskollegen haben sich auf jeden Fall gefreut und sich um mich gesorgt. Aber das Tape saß so fest, dass ich das Knie kaum beugen oder strecken konnte. So habe ich dann einen kleinen Teil noch zum Erfolg beitragen – vielleicht hat es den Jungs zwei, drei Prozent mehr Motivation gegeben. Sie mussten schließlich an zwei weiteren Geräten ohne Streichwert auskommen, durften sich also keinen Fehler mehr erlauben. Zum Glück haben sie es ins Finale geschafft.
Hoffentlich bleibt dieses Szenario aus, aber: Wären Sie körperlich wie psychisch in der Lage, das in Tokio noch einmal so leisten?
Toba: Eine gute Frage. Ich würde immer alles geben, alles erdenklich Mögliche machen. Aber wenn es mental nicht ginge, würde ich es nicht noch mal wiederholen. So oder so: Ich wünsche mir so sehr, dass wir alle es schaffen, einmal vernünftig durchturnen.
Ihre Geschichte hat viele Menschen bewegt, Sie haben sogar einen Bambi gewonnen.
Toba: Die Auszeichnung war eine Riesenehre. Aber ehrlich gesagt: Ich hatte erst einmal nach der Rückkehr kaum Zeit, das alles richtig zu verarbeiten. Was wirklich hängen geblieben ist, waren zwei Sachen. Einmal: Ich habe am nächsten Morgen mit meinem besten Freund in Hannover telefoniert, der erzählte mir erst einmal, was meine Geschichte ausgelöst hatte, dass es in den Nachrichten kein anderes Thema gab. Ich habe das in Rio ja gar nicht so mitbekommen. Daraufhin habe ich mein Handy beiseite gelegt, ich musste erst einmal allein sein, meinen Gefühlen freien Lauf lassen – als hätte ich an dem Tag zuvor nicht schon genug geheult (lacht). Noch einen Tag später habe ich dann doch wieder das Handy in die Hand genommen: Das war schon beeindruckend, denn ich kannte so eine Resonanz ja nur von anderen, aber nicht von mir.
Und der zweite Moment?
Toba: Da war ich zurück in Hannover. Vor der ersten Operation wollte ich unbedingt noch mal in die Stadt, ein bisschen spazieren, etwas essen gehen. Als ich an einem Café vorbeiging, stand auf einmal ein Mann auf, begann zu klatschen und animierte andere, das auch zu tun. Da dachte ich nur: Wow, das hat schon etwas bei manchen Menschen hinterlassen.
Waren Sie an jenem 6. August vor fünf Jahren bereits soweit zu sagen: Das kann es noch nicht gewesen sein?
Toba: Für mich war in dem Augenblick klar: Ich will so schnell wie möglich gesund werden, denn ich habe noch eine Rechnung offen mit Olympia.
Es hat dann mehr als ein Jahr gedauert bis zum Comeback in der DTB-Riege.
Toba: Eine extrem schwierige Zeit, gerade mit der Infektion im Knie hatte ich zu kämpfen. Zum Glück hatte ich aber alle wichtigen Leute um mich, die mich aufgebaut, mir aber auch in den Hintern getreten haben. Ich wusste nicht, ob ich je wieder dieses Leistungsniveau erreichen würde – die anderen Teamkollegen hatten Mitleid mit mir, haben aber natürlich trotzdem weiter an sich gearbeitet.
Es ist gut gegangen: Zuletzt sind Sie sogar EM-Zweiter am Reck in Basel geworden.
Toba: Ich weiß nicht, wie alles gelaufen wäre ohne diesen Sturz. Aber ich kann darin auch nicht nur Negatives sehen. Ich muss dafür dankbar sein, dass ich mir danach bewiesen habe, auch international mal eine Medaille holen zu können. Das war etwas ganz Besonderes, denn vorher hieß es, ich sei immer nur mannschaftstauglich. Ich tauge aber offenbar auch im Einzel an dem einen oder anderen Gerät (lacht). Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das alles noch erleben kann.
Genau. Mit Verlaub: 30 Jahre, das ist erstaunlich. Merken Sie die Jahre auch an manchen Tagen?
Toba: Das stimmt, ich bin nicht mehr der jüngste Hüpfer (lacht). Aber das Turnalter hat sich in den letzten Jahr nach hinten verschoben; es gibt noch Ältere als mich, die auf noch höherem Niveau turnen können. Wenn früher ein paar Wehwehchen nach einer Nacht schon wieder weg waren, zieht sich das heute halt ein bisschen länger hin. Man kann sich darauf einstellen, muss aber auch mal akzeptieren, dass an manchen Tagen einfach gar nicht mehr geht.
Steht Ihre Übung für Tokio?
Toba: Prinzipiell ja. Im Normalfall wird ja vorher nichts mehr daran geändert.
Wie lange bastelt man an so einer Übung?
Toba: Auf unserem Niveau angekommen, fängt man ja nie bei null an, alles baut aufeinander auf. Meine Übung ist über die vergangenen Jahre von der Struktur her gleichgeblieben, außer es kam mal ein neues Element dazu. Das passiert aber vor allem nach Olympischen Spielen, wenn sich alle vier Jahre Wertungsvorschriften ändern.
Was könnte denn Ihr turnerischer Vortrag von Basel in Tokio wert sein?
Toba: Es wäre utopisch, von einer Medaille auszugehen. Ich kenne viele, die noch schwierigere Übungen turnen als ich. Aber: In Basel habe ich auch nicht damit gerechnet, ins Finale zu kommen. Ohnehin ist es schon der größte Erfolg, mich noch mal für die Spiele qualifiziert zu haben: Olympia beginnt für mich noch mal neu.
Sie haben sich im vergangenen Jahr früh dazu positioniert, die Spiele zu verlegen, was dann auch erfolgt ist. Haben Sie in diesem Jahr auch mal gedacht: Liebe Leute, Olympia während einer Pandemie ist einfach zu gefährlich, lasst es ganz sein?
Toba: Die Frage ist: Hört man auf das Sportlerherz oder auf die Vernunft? Letztes Jahr musste auf jeden Fall an die Vernunft der Menschen appelliert werden, um der Pandemie mal so ein bisschen den Hahn abzudrehen. Ob für Leistungssportler, Politiker, Wissenschaftler oder normale Menschen: Diese Situation war für alle neu. Ein Jahr später haben wir immer noch nicht die uns bekannte Normalität zurück. Aber es ist eine neue Normalität eingekehrt, mit der alle einigermaßen umgehen können. Es gibt Regeln, die man als Sportler einhalten muss, unter denen es trotzdem möglich ist, sich auf Wettkämpfen vergleichen zu können. Mir ist bewusst, dass ich als Leistungssportler und als Laie spreche, ich also nicht die Organisation des gemeinsamen Essens, des Testsystems oder des Transports übernehmen muss. Ich denke, es wurde ein ganz guter Weg gefunden. Ich bin dankbar dafür, dass wir nach Japan reisen und die Olympischen Spiele turnen können. Aber ich hoffe auch sehr, dass kein größerer Schaden entsteht, als es ihn bereits gibt.
London und Rio waren stimmungsvolle Spiele – lässt sich Tokio mit ihnen vergleichen?
Toba: Mein Papa (Marius Toba, d. Red.) hat das mal treffend formuliert, er war ja selbst in Seoul 1988, Atlanta 1996 und Sydney 2000 dabei. Auf die Frage, welche die schönsten Spiele waren, antwortete er: Du kannst Olympische Spiele nicht miteinander vergleichen, alle haben unterschiedlichen Flair. Und das stimmt, wenn ich jetzt nur mal auf meine Teilnahmen blicke: In Rio war – soweit ich weiß – alles viel offener und freier, wenn auch nicht zu 100 Prozent perfekt. In London war im Olympischen Dorf alles viel strikter und kontrollierter. Genauso wird es jetzt sein: Die Pandemie macht Tokio zu den innovativsten Olympischen Spielen – wofür die Japaner auch ohnehin bekannt sind. Es werden mehr die Wettkämpfe im Vordergrund stehen als das stimmungsvolle Beisammensein. Trotzdem sind es Olympische Spiele – und die werden wir uns so schön wie möglich machen.
Welche Geschichte von Ihnen soll nach Tokio 2020 respektive 2021 stehen?
Toba: Diese Gedanken habe ich mir schon sehr oft gemacht. Ich bin jemand, der mit sich sehr kritisch umgeht. Egal wie gut ich turne, ich habe immer etwas zu bemängeln. Ich würde mir wünschen, nach den Wettkämpfen sagen zu können: Ich habe nichts an mir auszusetzen, weil ich einfach zufrieden bin.