Essen. Die schweren Unfälle im Radsport nach dem Saisonstart werfen Fragen auf. Routinier Marcel Sieberg kritisiert einen Werteverlust.

Die Zeit wird knapp für die deutschen Tour-Hoffnungen Emanuel Buchmann und Maximilian Schachmann. Nach ihren schweren Stürzen bei der Dauphiné in Frankreich und bei der Lombardei-Rundfahrt in Italien müssen sich die Radprofis des deutschen Teams Bora-hansgrohe binnen zwei Wochen erholen, um beim wichtigsten Radrennen der Welt starten zu können.

Die Zeit war auch schon vorher knapp. Wegen der Corona-Pandemie wurde der Rennkalender auf ein Minimum zusammengepresst. Fehler dürfen nicht mehr passieren. Doch am Wochenende sind viele Fehler passiert. Zu viele.

Gern gesehener Gast beim Sparkassen-Giro in Bochum: Radprofi Marcel Sieberg.
Gern gesehener Gast beim Sparkassen-Giro in Bochum: Radprofi Marcel Sieberg. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

In Frankreich erlitt Bora-Kapitän Buchmann blaue Flecken bei einem Massensturz. In Italien kollidierte Schachmann mit einem Auto und brach sich das Schlüsselbein. Viel schlimmer erwischte es jedoch Remco Evenepoel, der von einer Brücke zehn Meter in die Tiefe stürzte und sich nur das Becken brach. Sein Teamchef Patrick Lefevere sagte: „Wir hätten zwei tote Fahrer haben können.“ Denn in der Woche zuvor war Evenepoels Teamkollege Fabio Jakobsen bei der Polen-Rundfahrt schwer verunfallt. Beim Niederländer wurden nach einer fünfstündigen Operation aber Verletzungen am Gehirn und an der Wirbelsäule ausgeschlossen.

Die Serie von schweren Stürzen stellt erneut die Grenze zwischen Unterhaltung und Sicherheit infrage. Wird mit dem Leben der Fahrer leichtfertig umgegangen? Sind die Strecken nicht sicher genug? Oder die Fahrer zu aggressiv unterwegs?

„Das weiß eigentlich jeder“

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Einer, der seit Jahren im harten Radsport-Geschäft mitfährt, ist Marcel Sieberg. Der 38-Jährige wurde in Castrop-Rauxel geboren und lebt in Bocholt. Er war viele Jahre der Edelhelfer des deutschen Sprinters André Greipel, startete neunmal bei der Tour de France. Im Moment fährt er für Bahrain-McLaren, war in Polen dabei.

Den Unfall von Jakobsen in Kattowitz hat Sieberg nicht mitbekommen. Als er cirka eineinhalb Minuten nach dem Sieger das Ziel erreichte, sah er die umgestürzten Banden, in die der Niederländer mit Vollspeed gerast war. „Mir war schnell klar, dass das Übel ausgegangen ist.“

Sprinter Greipel wollte das Risiko nicht eingehen

Sieberg kennt den gefährlichen Zielsprint. Vor Jahren habe ihm Greipel am Abend vor dem Rennen gesagt, dass er nicht mitsprinten werde: „Zu gefährlich.“ Das erzählte Sieberg auch seinem deutschen Teamkollegen Phil Bauhaus in diesem Jahr. „Wenn da etwas passiert, dann passiert etwas Schlimmeres, das weiß eigentlich jeder. Dass es noch keinen schweren Unfall gab, ist ein Wunder.“

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Es ist etwas passiert. In Kattowitz, in Norditalien, in den französischen Alpen. Schon vor diesem Rennwochenende forderten die Fahrer den Weltverband UCI zum Handeln auf. Auch Bora-Teammanager Ralph Denk sagt, die Veranstalter vor Ort trügen eine zu große Verantwortung. Beim Jakobsen-Sturz sei die Begitterung „amateurhaft“ gewesen. „Das kann auf jeden Fall besser werden“, sagte er dem Sportinformations-Dienst. Der Niederländer war nach einem Kontakt von Dylan Groenewegen bei Höchstgeschwindigkeit in die Absperrung gerast.

Fahrer nach der Corona-Pause „nervöser“

Für Routinier Marcel Sieberg liegen die Gründe tiefer. Die Corona-Pause habe ihren Teil dazu beigetragen. „Ich merke, dass im Moment sehr nervös gefahren wird. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass die Saison so kurz ist, oder Fahrer Angst um ihre Verträge haben und sich zeigen wollen, aber es ist ein großer Druck zu spüren“, sagt Sieberg. Der Druck werde durch das Radio auf die Fahrer übertragen. Jedes Teammitglied trägt einen Knopf im Ohr, über den er Anweisungen vom sportlichen Leiter erhalten kann. „Die sportlichen Leiter versuchen, ihre Fahrer nach vorne zu schieben. Dadurch entsteht viel Hektik. Ich bin dafür, die Kommunikation so gering wie möglich zu halten“, sagt Sieberg.

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Zwei Dinge sind ihm unabhängig von Corona aufgefallen. „Die Fahrräder werden immer schneller, das Material immer leichter. Viele Straßen sind aber nicht auf diese Geschwindigkeiten ausgelegt. Sie sind zu schmal, schlecht asphaltiert. Die UCI muss mehr die Strecken besichtigen und prüfen. Ich verstehe nicht, warum die Rennen einfach durchgezogen werden, selbst wenn etwas passiert wie in Kattowitz.“

Weniger Zusammenarbeit in den Teams

Sieberg sieht aber noch ein anderes Problem: „Viele junge Fahrer haben mittlerweile keinen Respekt mehr vor älteren Fahrern. Sie hören nicht mehr auf die erfahrenen Kollegen. Sie machen einfach ihr eigenes Ding. In der Mannschaft muss man sich gegenseitig helfen und auf Gefahren aufmerksam machen, aber viele junge Profis machen das nicht mit. Sie versuchen einfach, so schnell wie möglich anzukommen. Das ist vor zehn, fünfzehn Jahren anders gelaufen. Zusammenarbeit in den Teams gibt es immer weniger.“

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Viel Zeit bleibt nicht, um darüber nachzudenken. Die nächsten Rennen warten schon. Und am 29. August startet die Tour de France, das wichtigste Radrennen der Welt, bei dem sich die Fahrer zeigen wollen. Und müssen.