Essen. Die Tour de France ist für die Radprofis von existenzieller Bedeutung. Eine Absage hätte große Folgen. Es wird kein Geisterrennen geben.

Fast drei Wochen lang war von Christian Prudhomme, dem Direktor der Tour de France, nichts zu hören. Während erst die Fußball-Europameisterschaft, dann die Olympischen Spiele verschoben und schließlich am Mittwoch das bedeutendste Tennisturnier der Welt in Wimbledon komplett aus dem internationalen Wettkampfkalender gestrichen worden waren, hüllten sich sowohl die Tour-Organisatoren als auch der Radsport-Weltverband UCI in Schweigen. Am Donnerstag meldete sich Tourchef Prudhomme endlich zu Wort und schloss zumindest eine Geister-Tour aus.

„Die Tour wird nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden“, stellte Prudhomme in der französischen Regionalzeitung „La Montagne“ klar. „Sie lebt von der Inbrunst, dem Enthusiasmus und strahlenden Gesichtern. Wir müssen diese freudigen Gesichter wiederfinden.“ Für das wichtigste und populärste Etappenrennen der Welt hält Prudhomme am vorgesehenen Termin zumindest vorerst fest. Am 27. Juni soll die Frankreich-Rundfahrt in Nizza gestartet und am 19. Juli mit der traditionellen Zielankunft auf den Pariser Champs Elysées beendet werden.

Entscheidung über Tour soll bis zum 15. Mai fallen

Ob die Tour an dem Wunschtermin wirklich durch Frankreich rollen wird, ist jedoch fraglich. Und auch Tourdirektor Prudhomme schränkt ein: „Das hängt natürlich von der Entwicklung der Pandemie in Frankreich ab.“ Bis zum 15. Mai soll laut Prudhomme die Entscheidung fallen. Das letzte Wort haben ohnehin nicht die Organisatoren der Tour de France, sondern das französische Gesundheitsministerium, das die Risiken eines solchen Rennens für die Gesundheit der Radprofis und der Zuschauer abwägen muss. 2020 sind 21 Etappen über insgesamt 3470 Kilometer vorgesehen, die durch sechs Regionen und 32 Départements Frankreichs führen sollen.

Es ist ein verzweifeltes Ringen um die Tour de France. Für die Franzosen ist die Rundfahrt weit mehr als Sport. Sie ist Kultur, sie ist fast schon ein Nationalheiligtum. Bisher verhinderten nur die beiden Weltkriege die Austragung. Und für die Rennställe ist die Tour praktisch die Lebensversicherung. Ohne sie würde es schwer, den Profi-Radsport zu finanzieren.

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„Die Tour ist sehr, sehr wichtig für uns. Daraus mache ich kein Hehl“, sagt Ralph Denk, der Chef des deutschen Radteams Bora-hansgrohe, im Gespräch mit dieser Zeitung. „Bei der Tour de France generiert unser Team zwischen 60 und 70 Prozent des Werbewerts.“ Um welche Dimensionen es sich handelt, hängt von den Erfolgen des Teams bei der Tour ab. „Der Werbewert beläuft sich auf 300 bis 500 Millionen Euro für unser Team. Aber das zahlen die Sponsoren nicht 1:1. Es gibt handelsübliche Abstriche. Aber klar: Es geht um sehr viel Geld.“

3470 Kilometer durch Frankreich

Und deshalb hätte Bora-Teamchef Denk auch einer Geister-Tour zugestimmt. Diese Idee war in der vergangenen Woche von der französischen Sportministerin Roxana Maracineanu, einer früheren Schwimm-Weltmeisterin, ins Spiel gebracht worden. „Unser Sport findet ausschließlich draußen statt. Wir nehmen ja auch keinen Eintritt“, erklärte Denk. „Es würden mehr Leute vor dem Fernseher die Tour verfolgen. Das wäre gut für die TV-Sender. Für uns wäre eine Tour ohne Zuschauer besser als gar keine.“ Prudhomme hat jetzt diese Möglichkeit ausgeschlossen. Ohnehin wäre es kaum möglich gewesen, die 3470 Kilometer so abzusichern, dass die Fans nicht an der Straße stehen. Schließlich verfolgen insgesamt zwischen zehn und zwölf Millionen Zuschauer die Frankreich-Rundfahrt.

Seit Donnerstag wird stattdessen konkret über eine Verschiebung diskutiert. Laut UCI-Vizepräsident Renato Di Rocco kommen drei mögliche Termine für den Neustart der Saison in Betracht: der 1. Juli, der 15. Juli oder der 1. August. Das ließ Di Rocco gegenüber mehreren italienischen Medien durchblicken.

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Demnach soll den Fahrern dann eine 30-tägige Vorbereitungszeit mit kleineren Rennen eingeräumt werden. Anschließend könnte die Tour beginnen, also womöglich im August. Durch die Verschiebung der Olympischen Spiele und die Wimbledon-Absage ergibt sich ein größerer Spielraum für eine veränderte Terminierung. Aber wird das Coronavirus bis dahin wirklich so weit besiegt sein, dass in Frankreich über zehn Millionen Menschen an der Strecke stehen könnten, ohne um ihre Gesundheit Angst haben zu müssen?

Prudhomme: "Möchte nichts mehr als eine Tour in diesem Jahr"

Es ist verständlich, dass sich die Radsport-Welt (noch) nicht mit der Absage ihres wichtigsten Rennens abfinden kann, aber im Moment ist eine Tour im Sommer 2020 unwahrscheinlich. „Ich möchte nichts mehr als eine Tour de France in diesem Jahr“, sagte Christian Prudhomme „Denn eine Verschiebung oder Absage würde bedeuten, dass Frankreich sich dann immer noch in einem katastrophalen Zustand befindet.“ Nicht nur die Radprofis würden sich wünschen, dass es anders wäre.