Essen. Max Hartung erklärt seinen Verzicht, Verbände fordern eine Verlegung: Noch hält IOC-Präsident Thomas Bach aber an den Spielen im Juli fest.

Es mag eine Petitesse sein, aber sie verdeutlicht, welch wunderbare Auswirkung Olympische Spiele haben können. Im Großen und im Kleinen. Diese Anekdote handelt von dem Mann, der mal An­dreas Toba war. Da das wichtigste Sportereignis der Welt schon mal Vornamen verschlucken und neue ausspucken kann, heißt er seit 2016 Olympiaheld Toba.

Der 29 Jahre alte Kunstturner absolvierte damals in Rio im Teamwettbewerb trotz eines Kreuzbandrisses seine Übung am Pauschenpferd und ermöglichte so der deutschen Mannschaft die Finalteilnahme. Herzzerreißend war das: Das Endergebnis der Kollegen geriet zur Nebensache, Olympiaheld Toba, so wurde er nun genannt, beherrschte die Schlagzeilen.

Tobas Appell an das IOC

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Dieser Tage hat sich Olympiaheld Toba wieder um die Kollegen gekümmert. Alle Sportler prägt die Ungewissheit, ob sie im Juli zu den Olympischen Spielen in Tokio reisen können. Wer das Glück hat und qualifiziert ist, kann sich aufgrund der dramatischen Folgen des weltumspannenden Coronavirus mit Ausgehbeschränkungen und geschlossenen Trainingsstätten nicht vernünftig vorbereiten. Also richtete Olympiaheld Toba einen Appell an das Internationale Olympische Komitee: „Liebes IOC, bitte erlöst die weltweite Sportgemeinschaft vom Druck, alles für den Traum zu geben, auch wenn es in der aktuellen Situation unmöglich ist.“ Die Spiele müssten bis zu einem Zeitpunkt verschoben werden, „an dem die Olympischen Werte wieder ausnahmslos gelebt werden können“.

Diese Worte drangen bis zu Thomas Bach durch, sie erfuhren aus dem Homeoffice des deutschen IOC-Präsidenten aber keine Antwort. So befremdlich die Bezeichnung auch ist: Um den Termin für die Eröffnungsfeier (24. Juli) und die folgenden 16 Wettkampftage ist ein Glaubenskrieg entfacht. Die Sorge um die Gesundheit aller Menschen treibt Sportler und Verbände dazu, auf eine Verlegung der Sommerspiele ins Jahr 2021 oder 2022 zu drängen. Doch das IOC beharrt auf seinen Plänen; immerhin signalisierte es am Sonntagabend, eine Entscheidung innerhalb der nächsten vier Wochen treffen zu wollen.

Max Hartung erklärt Verzicht auf Olympia in Tokio - zumindest im Juli

Bach (66), 1976 Fecht-Olympiasieger, steht vor seiner härtesten Prüfung als mächtigster Sportfunktionär der Welt. Denn längst ist der Herr der Ringe der Herr der Schlinge geworden, die enger wird und den Spielen in Tokio für diesen Sommer die Luft abschnürt.

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Mit jedem Tag, an dem keine zeitnahe Lösung der Pandemie in Aussicht gestellt wird, erwarten mehr und mehr Sportler von Bach einen späteren Termin für die Spiele. Dabei resignieren schon die ersten: „Für mich bedeutet das, zu Hause zu bleiben“, erklärte Fechter Max Hartung seinen Olympia-Verzicht, selbst wenn es beim vorgesehenen Termin bliebe. Noch vor einer Woche hatte der 30-Jährige an dieser Stelle nicht genau erklären können, wie er sich verhalten wolle. Nun setzt Hartung, dessen Wort als Athletensprecher im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) Gewicht hat, ein Zeichen: „Ich mache mir Gedanken, wie ich als Sportler beitragen kann, dass wir alle möglichst gut durch die Krise kommen.“

Für Isabell Werth ist der Juli keine Option

Hartung hat als erster deutscher Athlet einen Boykott erklärt. Norwegische Athleten sollen zu Hause bleiben, wenn Corona nicht weltweit unter Kontrolle ist. Für die einflussreichen US-Leichtathleten und -Schwimmer ist Olympia im Juli ebenso unmöglich wie für die Dressur-Olympiasiegerin aus Rheinberg, Isabell Werth, die sagt: „Das wissen wir alle.“ Deshalb holt der DOSB nun von möglichen Tokio-Fahrern ein Stimmungsbild ein – und will sich dem Ergebnis entsprechend gegenüber dem IOC positionieren.

Ein Boykott als Gegenmaßnahme zu seiner IOC-Politik weckt bei Thomas Bach traumatische Erinnerungen. Wegen des Verzichts der Westmächte wurde er 1980 in Moskau um die Olympischen Spiele gebracht. Als Funktionär wollte Bach diese Ohnmacht wie vor 40 Jahren nie mehr verspüren – was seinen Führungsstil maßgeblich beeinflusste. Folge: Im IOC müssen alle mit einer Stimme sprechen. Anders als Vorgängerin Claudia Bokel hat Fecht-Olympiasiegerin Britta Heidemann als Mitglied der IOC-Athletenkommission damit keine Probleme – dumm nur, dass sich die Aktiven immer weniger durch sie vertreten sehen. Ein IOC-Leitbild: Die Familie hält zusammen.

„Die Absage würde den olympischen Traum von 11.000 Athleten aus 206 Nationalen Komitees und dem IOC-Flüchtlingsteam zerstören“, hält Bach Kritikern entgegen, die mit Zweifeln an der Gesundheit für alle Beteiligten sowie irregulären Bedingungen (keine faire Qualifikation, schon jetzt keine ausreichende Dopingkontrollen mehr) argumentieren. Sie zielen allerdings gar nicht auf die vierte Olympia-Absage nach 1916 in Berlin, 1940 in Tokio und 1944 in London ab.

In Zeichen der Corona-Pandemie: Es geht um Milliarden

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Ihr Ziel ist eine Verlegung, für die natürlich Pläne in der Schublade liegen, die aber auch zweifelsohne logistisch und wirtschaftlich schwieriger zu stemmen wäre als eine verschobene Fußball-EM. Es geht um immense Summen: TV- und Sponsorengelder, Verträge und Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Euro in die Sportstätten sowie in das Olympische Dorf. Deshalb wird so lange wie möglich Normalität simuliert: Ab Donnerstag wird die Olympische Fackel durch Japan getragen. Thomas Bach und Japans Premierminister Shinzo Abe würden nur zu gerne sehen, wie damit am 24. Juli das Feuer in Tokio angezündet wird. Die Olympische Bewegung könnte sich als Sieger über die Corona-Pandemie, als Symbol der überwundenen Krise feiern lassen.

Doch gegen das Coronavirus scheint selbst das IOC nicht immun zu sein.