Essen. Max Hartung (Athleten Deutschland) über Corona, eine mögliche Olympia-Absage und Sorgen der Sportler, die sich für Tokio qualifizieren wollen

Das Coronovirus hat einen Teil des öffentlichen Lebens lahm gelegt und ist inzwischen auch eine Bedrohung für die Olympischen Sommerspiele in Tokio (24. Juli bis 9. August). Max Hartung ist Athletensprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und Gründungspräsident des Vereins Athleten Deutschland - dem 30 Jahre alten Fechter aus Dormagen liegt das Wohl der Sportler besonders am Herzen. Können also Ende Juli in Japan mehr als 11.000 Sportler zusammenkommen? Was würde eine Absage oder eine Verlegung für sie bedeuten? Hartung kennt zumindest einige Antworten

Herr Hartung, erst einmal noch Glückwunsch zur Olympia-Qualifikation. Das ist ja noch recht frisch.

Max Hartung: Dankeschön, ja, letzte Woche in Luxemburg haben wir es geschafft, wir sind rechnerisch jetzt durch. Eigentlich würden wir noch nächste Woche beim letzten Qualifikationsturnier in Budapest antreten, aber das ist auf nicht absehbare Zeit verschoben.

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Es muss sich seltsam anfühlen: einerseits die Freude über die Qualifikation, andererseits die Unsicherheit durch das Coronavirus, ob es im Juli überhaupt nach Tokio geht.

Es kommt ganz komisch daher. Diese Woche ist jeder Tag trainingsfrei, der übliche Rhythmus ist außer Kraft gesetzt. Es sollen meine dritten Olympischen Spiele werden, aber momentan kommt nicht die Euphorie auf, die ich erwartet hatte. Man stellt sich ganz andere Fragen.

Zum Beispiel?

Die, die sich andere Menschen auch stellen: Was bedeutet das für mich, für meine Mitmenschen, die Älteren im Bekanntenkreis? Und was kann ich tun, um zu helfen?

Inwiefern ist Ihr Alltag beeinflusst durch die Pandemie?

Sie hat dazu geführt, dass wir unseren Regenerationsurlaub vorgezogen haben. Aber auch sonst hat sich einiges geändert: Ich halte Abstand zu Menschen, treffe nur sehr wenige von ihnen, gehe nicht in Restaurants, obwohl die Woche frei ist.

Wegen Corona: Hartung hält sich an Empfehlungen der Bundesregierung und des Robert-Koch-Instituts

Eine erzwungene Isolation.

Eine selbstauferlegte Reduzierung sozialer Kontakte. Ich bin nicht in Quarantäne, aber ich versuche, mich an die Empfehlungen der Bundesregierung und des Robert-Koch-Instituts zu halten. Zu Hause bleibe ich stark beschäftigt, ich sammle mit unserem Verein Athleten Deutschland Informationen und kommuniziere mit Athleten und Organisationen. Wir schauen, welche Probleme die Sportler haben und wo wir konkret helfen können. Wir sind sehr aktiv, um das Beste aus der Situation zu machen.

Sie stehen in Kontakt zu vielen anderen deutschen Spitzensportlern. Wie ist das Stimmungsbild bei denen?

Sehr gefasst, die Sportler gehen nüchtern und pragmatisch mit der Situation um. Weil es nichts bringt, sich verrückt zu machen. Die eigenen Sportevents, auf die man lange hin trainiert hat, sind natürlich wichtig, sie werden aber vor dem Gesichtspunkt, dass andere in größerer Gefahr sind als man selbst, ins Verhältnis gerückt.

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Die eigenen Interessen stehen also hinten an?

Sportler sind in der Angelegenheit x eine gute Schule für die Gesellschaft. Wir sind es gewöhnt, in Mannschaften unterwegs zu sein. Wenn da jemand erkrankt, hält man automatisch Abstand und hilft sich gegenseitig aus. Das eigene Körpergefühl spielt eine Riesenrolle. Wir wissen, wie man mit Krankheiten umgeht, was das also auch jetzt für diejenigen bedeutet, die anfälliger sind, und können da dann vielleicht Vorbilder sein.

Trotzdem ist für viele Athleten ihr Sport auch der Beruf. Dabei geht es um Verdienste, um Sponsorenverträge, um Förderung als Kaderathlet. Das dürfte auch in den Hinterköpfen Ihrer Kollegen eine Rolle spielen.

Absolut, die Sorgen sind groß. Aber auch hier stehen sie in einem Verhältnis, denn die Befürchtungen sind bei Freiberuflern, Künstlern und anderen Menschen ebenso existenziell. Was bei uns Sportlern speziell ist: der lange Weg, den wir gegangen sind. Die Pandemie bricht auf der letzten Etappe einer vierjährigen Vorbereitung und Qualifikation für die Olympischen Spiele aus. Das ist ein langer Leidensweg, aber auch eine Phase voller Leidenschaft. Dass jetzt alles auf dem Spiel steht, trifft viele ganz besonders.

Bei den noch ausstehenden Olympia-Qualifikationen gibt es keine relative Fairness mehr

Ein großes Problem ist ja, dass nicht nur unklar ist, ob die Athleten im Juli nach Tokio dürfen. Die Frage ist auch: welche Athleten? Es sind ja erst 55 Prozent der Athleten qualifiziert.

In der Tat, das sorgt für große Unsicherheit, erfordert jetzt aber auch Pragmatismus und Improvisation um überhaupt den Trainingsbetrieb rudimentär aufrecht erhalten zu können. Das bringt die, die sich noch nicht haben qualifizieren können, in eine ganz unglückliche Lage, nicht zu wissen, wie es weitergeht. Fast in jeder Sportart werden nun die Kalender neu sortiert, der DOSB und das IOC werden die Nominierungsregeln anpassen müssen. Da sitzt man am News-Ticker und verfolgt mit Spannung jede Nachricht.

Selbst wenn es bei Tokio im Juli bliebe: Gibt es überhaupt noch faire Bedingungen, die Normen zu erfüllen?

Im Leistungssport gibt es immer den Faktor Zufall. Aber von der gewohnten relativen Fairness kann für den Rest der Qualifikation keine Rede mehr sein.

Länder schotten sich ab, Trainingsstätten werden geschlossen, von sozialen Kontakten wird abgeraten. Für Sportler, die noch auf Olympia hoffen, unfassbar schwierige Bedingungen.

Zum Glück werden gerade viele kleine Lösungen gestrickt, damit überhaupt noch trainiert werden kann. Vereine und Trainingsgruppen sind da ganz wertvolle Netze, in denen sich Athleten gegenseitig auffangen und sich helfen können. Das spürt man schon, dass der Sport da auch eine wertvolle Funktion hat, um die akut gefragte Solidarität herzustellen.

Hartung hat Verständnis für IOC-Präsident Bach

Bisher hält IOC-Präsident Bach an der Austragung im Juli fest, ebenso Japans Olympia-Komitee und -Organisatoren. Ist das mehr Zwangsoptimismus oder eine kluge Haltung?

Heute kann niemand sagen, was im Juli sein wird. Wir Athleten hoffen natürlich, in Tokio antreten zu können. Ganz klar ist aber auch, dass die Gesundheit der Menschen das Wichtigste ist. Es wäre unglaublich traurig, wenn wir die Spiele nicht würden austragen können.

Glauben Sie noch an Olympische Sommerspiele im Juli?

Ich bin kein Experte der Virologie, eine Prognose über Monate würde ich daher nicht wagen. Aber die Entwicklungen der letzten Tage sind zunehmend besorgniserregend.

Die Organisatoren rechnen erst Ende Mai damit, dass die 11.000 Sportler Gewissheit haben über die Austragung. Wir haben in den letzten Tagen gesehen, dass der öffentliche Druck auf den Fußball immer größer wurde und der dann nachgeben musste. Olympia ist nun die letzte Bastion, zu der man sagen könnte: Die Spiele müssen abgesagt werden.

Ich glaube, Olympische Spiele, wie ich sie mir wünsche, kann es nur geben, wenn sie von den Menschen mitgetragen werden. Wir brauchen die Situation, in der Vertrauen da ist, dass es eine relative Sicherheit für die Gesundheit der Bevölkerung und die der Athleten gibt. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung.

Mit anderen Worten: Sommerspiele in Tokio ohne Zuschauer kommen für Sie überhaupt nicht infrage.

Vielleicht hat man theoretisch die Chance, wenn es die Gesundheit der Athleten nicht gefährdet, durch die Minimalaufnahme des Sportbetriebs auch wieder zu unterhalten und Sorgen zu zerstreuen. Der Sport fehlt doch, wenn die Leute in Quarantäne zu Hause sind. Gleichwohl ist klar, dass von uns Sportlern eine Signalwirkung ausgeht: Wenn Kindergärten, Betriebe und Bars geschlossen werden, um die Schwächsten zu schützen, warum sollen dann Fußballer kicken und Fechter fechten? Aber Olympia ist ein Event, das man nicht für sich alleine hat, sondern das man gemeinsam mit anderen Menschen erlebt. Und das wäre eben ohne Zuschauer nicht dasselbe.

Hartung wünscht sich offene Kommunikation mit dem IOC

Ist eine Verlegung daher das Sinnvollste?

Ich wünsche mir, dass es dazu eine offene Kommunikation gibt. Denn ich kenne nicht alle Parameter, die das Internationale Olympische Komitee dabei zu berücksichtigen hat. Um eine Entscheidung nachvollziehen zu können, ist es ganz wichtig, dass man alle Überlegungen auf den Tisch legt. Ich kann für mich derzeit keine beste Option benennen.

Kann das IOC überhaupt Vertrauen vermitteln? Die obersten Olympioniken haben auf viel Einfluss, aber eben nicht auf eine Pandemie.

Ich muss sagen, dass ich auch ein Stück weit Verständnis habe für die Verantwortungsträger – ob in der Fußball-Bundesliga, in Unternehmen oder im IOC. Als Präsident muss Thomas Bach so vielen Interessen gerecht werden. Er hat selbst miterlebt, als Olympische Spiele wegen eines Boykotts abgesagt werden mussten, und weiß, was das bedeutet. Da muss so viel gegeneinander abgewogen werden – eine sehr schwierige Lage, um gute Entscheidungen zu treffen, die allen gerecht werden.

Wie im Fußball geht es auch bei Olympia um wahnsinnig viel Geld, das IOC verdient während der Olympia-Tage am meisten. Es ist aber auch Geld, mit dem Jobs gesichert werden und das die Verbände brauchen. Ist es ein Spagat zwischen Verantwortung und Wahnsinn?

In der Abwägung muss unter dem Strich stehen, dass die Gesundheit vorgeht. Es sind gerade viele Menschen wirtschaftlich bedroht, es sieht so aus, als könnte es eine Rezession geben. Da sind dann alle Menschen von betroffen. Egal, ob im Sport oder in der Wirtschaft: Sobald sich die Lage beruhigt, müssen alle anpacken und das Ganze wieder in Schwung bringen. Aber auch hier kann der Gedanke des Zusammenhalts, den wir Athleten großschreiben, kann ganz wichtig sein. Uns Sportlern geht es nicht nur ums Geld – wir spielen im Team.

Bei einer Olympia-Verlegung denkt Hartung über ein Karriereende nach

Mal angenommen, die Spiele in Tokio werden erst 2022 ausgetragen. Auch Sie wären dann zwei Jahre älter. Haben Sie die Befürchtung, wegen dieser Verschiebung um die Teilnahme gebracht zu werden?

Das hinge für mich sehr stark mit der Qualifikation zusammen. Ich stelle mir vor, dass man eine neue Qualifikation machen muss, wenn Olympia um zwei Jahre verlegt wird. Meine Teamkameraden und ich haben einen harten Weg hinter uns, wir haben schwer geschuftet, um wieder unter die besten Vier der Welt zu kommen. Im Moment wäre es für mich ganz schwer zu sagen: Okay, im Herbst fangen wir wieder von vorne an. Ohne diesen Höhepunkt, den wir uns verdient haben. Ich müsste erst einmal einen langen Urlaub machen und in mich gehen, ob ich noch die Kraft dazu hätte.

Die letzten Olympischen Spiele deshalb zu verpassen, würde für ein tiefes emotionales Loch sorgen.

Absolut. Das nimmt die letzten Seiten aus einer Geschichte und würde richtig weh tun.