Essen. Das Sportjahr 1997 verbindet unser Autor Denis de Haas mit großem Spektakel. Ein Grund dafür ist ein Wahnsinns-Eklat im Boxring.
Eigentlich heißt es immer: Die geraden Jahre sind die interessanteren Sportjahre. Es gibt Olympische Spiele und die großen Fußballturniere. Ereignisse für ein Milliarden-Publikum. Für die ungeraden Jahren fallen nur Weltmeisterschaften im Schwimmen und in der Leichtathletik ab – mit weniger Spektakel. Dann kommt aber dieses 1997 um die Ecke und widerlegt die ganze These. Was war das für ein spektakuläres, ungerades Sportjahr.
Im Frühjahr holten die Fußballer des FC Schalke 04 den Uefa-Cup. Können wir besser, sagten sich die Profis von Borussia Dortmund. Lars Ricken lupfte, und auch der Champions-League-Pokal landete im Ruhrgebiet.
Weiter ging es in diesem Sportjahr mit einem der Größten: Wir standen nachts auf, um Michael Jordan zu sehen. Diesen Basketballer vom anderen Stern, der mit einem Magenvirus und hohem Fieber auf dem Parkett stand. Der trotzdem die Utah Jazz im Alleingang auseinander nahm und somit seine Chicago Bulls zur NBA-Meisterschaft führte.
In diesem Jahr 1997 zeigte auch Jan Ullrich seine Triumphfahrt über die Pyrenäen und Alpen. Die Attacke des jungen Radprofis hinauf nach Andorra-Arcalis: legendär. Udo Bölts‘ Quäl-dich-du-Sau-Ansage in den Vogesen: unvergessen. Ullrich gewann als erster Deutscher die Tour de France. Dass er später in einen Doping-Skandal verwickelt sein wird, daran dachte damals noch niemand.
Stars reisten in Privatjets an
Sprechen wir aber nun über den 28. Juni 1997: Es war Saisonabschluss in unserem Fußballverein. Mit der B-Jugend zelteten wir auf dem Sportplatz. Ein paar Jungs stahlen sich nachts davon. Ihr Ziel: der Pay-TV-Decoder im Wohnzimmer der Eltern. Schnell den weißen Schlüssel eingesteckt und schon sahen sie die ersten Bilder aus Las Vegas.
Es lief ein Boxkampf der Superlative. Weltmeisterschaft im Schwergewicht. Evander „The Real Deal“ Holyfield als Champion. Mike „Iron Mike“ Tyson als Herausforderer. Die beiden hatten schon im November 1996 um den Titel geboxt. Damals ging Tyson als großer Favorit unter – verlor durch einen technischen K.o. in der elften Runde.
Nun also der Rückkampf: Madonna, Whitney Houston, Michael Douglas und Sylvester Stallone reisten in Privatjets an und nahmen Platz am Ring. Dort saß auch Don King. Dieser zwielichtige Promoter mit der Starkstromfrisur konnte sich die Hände reiben. Mit umgerechnet 350 Millionen D-Mark sorgte der Kampf damals für einen Umsatzrekord.
Der Gong zur ersten Runde: viel Geplänkel. In der 2. Runde verpasste Holyfield seinem Gegner einen Kopfstoß. Dafür ermahnte ihn der Ringrichter Mills Lane. Allerdings platzte dabei Tysons Augenbraue auf. Der Herausforderer verlor nun völlig die Kontrolle.
Auf den Mundschutz verzichtet
Er verzichtete für die dritte Runde bewusst auf einen Mundschutz und ließ sich zu einem der größten Aussetzer der Sportgeschichte hinreißen: Tyson biss zu. Wobei: Zunächst knabberte er am linken Ohr seines Kontrahenten. „Der erste Biss war eher kosmetisch“, sagte Mills Lane später und verwarnte den Täter. Nun rastete Tyson komplett aus: Wie ein Raubtier schnappte er nach Holyfields rechtem Ohr. Biss zu. Und spuckte etwas auf den Ringboden. Zunächst war nicht zu erkennen, was es war. Doch dann war Blut zu sehen. Viel Blut.
Für diese irre Aktion erhielt Tyson zunächst nur einen Punktabzug. Nach einer kurzen Beratung sprach das Kampfgericht aber die Disqualifikation aus. Die Jungs aus der Fernsehrunde kamen zurück zum Sportplatz, öffneten die Zelte, weckten die schlafenden Teamkollegen, erzählten von Tyson, dem Vampir. „Wollt ihr uns verarschen“, lautete die Reaktion. Keiner konnte glauben, was da im fernen Las Vegas passiert sein sollte.
Am nächsten Tag sahen wir uns die Standbilder an. Den Biss. Das Blut. Holyfields Schmerzen. Tyson außer Rand und Band. Der Boxer löste mit seiner Aktion noch Tumulte in der Halle aus. Münzen flogen, Feuerwerkskörper knallten durch die Luft. Es gab 16 Verletzte.
Holyfield bezeichnete Aktion als Wahnsinn
Tyson spürte zunächst kein Unrechtsbewusstsein. „Was soll ich denn machen? Wenn er für seine ständigen Kopfstöße nicht bestraft wird, muss ich doch handeln“, sagte der damals 30-Jährige. Holyfield bezeichnete die Aktion schlicht als Wahnsinn. „Er hat mich absichtlich gebissen. Ich dachte, mein Ohr ist ab“, sagte der damals 34 Jahre alte Boxer, bevor er sich im Valley Hospital behandeln ließ. Ein Schönheitschirurg nähte das Ohr mit acht Stichen wieder zusammen. Eine kleine Macke zeugt aber heute noch von Tysons Biss.
Inzwischen nehmen beide Boxer die Aktion auch locker. Sie haben sogar einen Werbespot darüber gedreht, bei dem Holyfield eine kleine Schachtel überreicht bekommt. „Es tut mir leid Evander. Hier ist Dein Ohr. Mein Ohr. Ich hab’s in Formaldehyd eingelegt“, sagt Tyson dabei.
Für seinen Biss erhielt der Schwergewichtsboxer übrigens eine lange Sperre. Tyson stand erst 19 Monate später wieder im Ring. Anfang 1999, in einem dieser ungeraden Jahre mit wenig Spektakel.