Usain Bolt zwang manche, sich den Wecker zu stellen. So wie Redakteur Dominik Loth. Er schildert dies in unserer Serie “Welch ein Ereignis“.
Damals, sagen die Alten, sind wir aufgestanden, um ihn boxen zu sehen. Mitten in der Nacht. Egal, ob der Wecker zur grausamsten Stunde klingelte. Egal, ob man von der Nachtschicht kam. Man durfte ihn nicht verpassen, sagen die Alten. Gegen George Foreman im Dschungel des Kongo. Oder gegen Joe Frazier, im Thriller von Manila.
Er schwebte wie ein Schmetterling und stach wie eine Biene. Im Ring, und daneben. „Kein Vietcong nannte mich jemals Nigger.“ Ein Satz, den man als Schwarzer zu jener Zeit wohl nur sagen konnte, wenn man wirklich der Größte war. Die Alten schwören darauf: Muhammad Ali war der Größte.
Ich habe das Pech, nicht zu den Alten zu gehören. Ich habe Muhammad Ali nie boxen sehen. Nachts aufgestanden bin ich trotzdem, um IHN sprinten zu sehen.
Warum ich das erste Mal aufgestanden bin, weiß ich gar nicht mehr. Usain Bolt war plötzlich in meinem Leben, und rückblickend passt das gut zu seinem Stil. Für mich hatte er einfach alles: Eine unnachahmliche Technik, ein markantes Erscheinungsbild, und eine Lässigkeit, dass er hätte in jedem Tarantino-Film mitspielen können. Er war da, und er sollte der Größte werden. Ganz klar.
Usain Bolt machte große Sprüche und verärgerte die Leute
Anders als bei den meisten Ali-Kämpfen war mein Vergnügen zeitlich knapp bemessen. Zum angekündigten Lauf in der Programmzeitschrift (so jung bin ich doch nicht), schaltete ich ein: Die 100-Meter-Strecke bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking. Mein Läufer überragte alle: Groß und schlank, sehnig wie eine Antilope. Zunächst lag er gleichauf, doch seine langen Beine galoppierten immer schneller, wahnwitzig schnell, und plötzlich war er schon einen Meter vor den anderen, breitete die Arme aus und lachte. 9,69 Sekunden. Bei Gegenwind. Und mit offenen Schnürsenkeln. Was ein Typ. Fast unnötig zu erwähnen, das er auch über 200 Meter und mit der Staffel gewann.
2012 saß ich wieder da: Diesmal London, diesmal ohne Wecker. Als der Start bevorstand und jemand eine Flasche aus dem Publikum warf, stand auch ich vor dem Fernseher. Ich wollte ihn laufen sehen, ich wollte sehen, wie er die Konkurrenz stehen lässt, aber diesmal musste er arbeiten. Nach drei viertel der Strecke schälte er sich nach vorne, elegant, unaufhaltsam, als hätte sein Sieg schon festgestanden. Er schien unbezwingbar, und er hörte im Ziel nicht auf zu lachen.
Nach seinem Sieg über die 200 Meter setzte er einen drauf und machte Liegestütz. Was er von sich hielt, sagte er: „Ich bin jetzt eine Legende. Ich bin außerdem die großartigste lebende Legende.“
Usain Bolt machte große Sprüche und verärgerte die Leute. Ich mochte das. Er wusste, was er konnte, und hatte anscheinend, das, was man „Charakter“ nennt.
Bolt zelebrierte sich und seine Leistungen
Die Debatten um weichgespülte Fußballprofis sollten erst später kommen, aber schon 2012 schien es viele Sportler zu geben, die dieselben auswendig gelernten Sätze von sich gaben. Lebt Sport nicht von Anziehung und Abneigung? Es ist doch gerade das schöne, dass es nicht um Leben und Tod geht. Doch schon damals, als die Social-Media-Welle noch nicht mit Wucht am Ufer aufschlug, schien es, als hätten Profisportler alles zu verlieren.
Usain Bolt war anders. Er war ein Spieler. Er zelebrierte sich und seine Leistungen, die er immer wieder aufs Neue bestätigte. Gewinnen und verlieren, dazwischen gab es nichts.
Vier Jahre zogen ins Land, und als es in Rio 2016 soweit war, wusste ich nicht mehr, warum ich dafür aufstand. Mir schien Usain Bolt älter, schwerfälliger, seine goldenen Schuhe widerten mich an. Sein ganzes Gehabe widerte mich an. Oder lag es an mir? Schließlich waren acht Jahre vergangen, das Leben hatte auch mich älter gemacht. Gibt es nicht Wichtigeres als möglicherweise vollgepumpten Betrügern dabei zuzusehen, wie sie Geld kassieren?
Aber dann packte es mich. Zunächst schien er zu verlieren, mit seinen goldenen Schuhen, seinen millionenschweren Werbedeals, seiner Arroganz, doch dann wurde Usain Bolt schneller, und es zog mich aus dem Sitz. Während er auf die Ziellinie zurannte, „rannte“ ich zum Fernseher und stieß in jenem Moment seines Sieges ein triumphales „Ja!“ aus. Als hätte ich gerade etwas gewonnen. Oder hatte der Glaube über die Vernunft gewonnen?
Usain Bolt war mein Muhammad Ali, weil ich aufstand, um ihn sprinten zu sehen.