Essen. 1974 gewinnt die Nationalmannschaft den zweiten WM-Titel. Die Wasserschlacht von Frankfurt wurde zum Höhepunkt im Sommer eines Achtjährigen.

1974 war ein zwiespältiges Jahr in einem zerrissenen Jahrzehnt. Die Entspannungspolitik Willy Brandts fand mit der Annäherung an die DDR ihren Abschluss. In Portugal und Griechenland übernahmen Demokraten die Regierung vom Militär. Die schwedische Popband Abba gewann mit „Waterloo“ den Grand Prix de la Chanson. Zugleich hielt die Ölkrise die Welt noch immer im Griff, erschütterte der RAF-Terrorismus das Land.

1974 war vor allen anderen das Jahr des zweiten WM-Titels für Fußball-Deutschland. Im eigenen Land gewann die Nationalmannschaft nach dem Wunder von Bern erneut den Titel und zementierte den Legendenstatus einer Generation von Spielern wie Franz Beckenbauer, Gerd Müller oder Jupp Heynckes.

Sommerfrische in der Provinz

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Der Sommer 1974 bildete aber auch für einen acht Jahre alten Jungen die Blaupause einer unbeschwerten Kindheit – und ersten Höhepunkt einer nicht unkomplizierten Liebe zum Fußball. Eine Liebe, die lange nicht ausbrechen durfte, weil die Eltern des Jungen – erst wenige Jahre zuvor dem provinziellen Mief entflohen, aber längst nicht völlig entkommen – alles, abgesehen von einem deutlich ausgesprochenen Verbot, dafür taten, ihre Kinder vom „Proletensport“ Fußball fernzuhalten. Es gab im Sportverein also Handball anstelle von Fußball, „Lassie“ und „Daktari“ anstelle der „Sportschau“ und „Von Hamburg nach Tahiti“ im Radio anstelle der Bundesliga-Konferenz.

Urlaub im Paradies verbotener Früchte

Der Sommer 1974 begann mit Urlaub bei den Großeltern für den Achtjährigen, also mit einer Reise in ebenjene Provinz, der die Eltern entkommen waren. Die Großeltern lebten in einem größeren Dorf vor den Toren Frankfurts in – wie man heute sagt – einem Mehrgenerationenhaus. Onkel, Tante und Cousinen wohnten unter einem Dach. Es war ein Paradies der verbotenen Früchte mit Eszet-Schnitten, Zack-Comic-Heften und viel Fußball auf dem Garagenhof. Erst viele Jahre später erschloss sich dem Jungen die abschnürende Enge dieses Dorflebens, in dem der Geist der Moderne allein in Prilblumen und einem giftgrünen Toilettendeckelbezug angekommen war.

Ein heimlicher WM-Held

Zum heimlichen Helden des Sommers wurde der Onkel des Achtjährigen. Dieser hatte, pünktlich zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, viel Geld in einen Farbfernseher investiert – in einer medial weitgehend schwarz-weißen Welt, in der Mannschaften noch als Teams mit „dunklen Hosen und hellen Jerseys“ vorgestellt wurden.

Wenn Deutschland spielte, erlebte der Achtjährige eine ganz besondere Inszenierung. Selbstverständlich war es im Nachkriegsdeutschland des Jahres 1974 völlig undenkbar, Auto, Haus oder Wohnzimmer offen in Schwarz-Rot-Gold zu schmücken, aber gründliche Vorbereitung war auch damals unerlässlich: Der Onkel des Achtjährigen montierte jedenfalls bei den Spielen der deutschen Mannschaft die Abdeckung einer Seitenlehne des Fernsehsessels ab und legte sie quer vor sich über die Lehne. Auf dem Boden neben dem exakt zur Schrankwand ausgerichteten Sessel stand eine Batterie von Halbliterflaschen Binding-Bier, auf der übrig gebliebenen Seitenlehne thronte einer dieser Dreh-Aschenbecher, Feuerzeug und mindestens eine Schachtel HB.

Erwartung, Enttäuschung und Erfolg

Der Rest der Familie hatte Wohnzimmer-Verbot. Ausgenommen war allein der Achtjährige, vermutlich war das irgend so ein krudes Männerding. Dann ging es rund. Jeder Ballwechsel wurde ungnädig bis wütend kommentiert. Auch der Sinn der querliegenden Sessellehne erschloss sich rasch: Irgendwo mussten die Aggressionen ja hin. Jedenfalls trommelten die Fäuste des Mannes im Sessel auf der Lehne diesen ganz eigenen Fußballrhythmus, dieses Crescendo aus Erwartung, permanenter Enttäuschung und unerwartetem Erfolg.

Franz Beckenbauer und Co-Trainer Jupp Derwall stehen 1974 in Frankfurt vor Spielbeginn sichtlich im Regen.
Franz Beckenbauer und Co-Trainer Jupp Derwall stehen 1974 in Frankfurt vor Spielbeginn sichtlich im Regen. © dpa

Für den kleinen Kerl, der so oft auf dem Fußboden vor dem Bildschirm kauerte, begann die WM aber erst mit der Wasserschlacht von Frankfurt, dem Halbfinale der WM, so richtig.

Allein die Vorbereitung auf das Spiel hat sich in die Erinnerung gebrannt, vor allem das Bild von Helfern, die mit winzig scheinenden Walzen versuchten, der Wassermassen im Frankfurter Waldstadion Herr zu werden. Der Rasen glich dennoch das gesamte Spiel hindurch mehr einer Sumpflandschaft als einem Fußballplatz.

Eine faszinierende Rutschpartie

Fußballerisch war das kein Hochgenuss, aber war das faszinierend, wie sich die Spieler in die Schlammlandschaft warfen, wie der Ball in spritzenden Fontänen flog. Wenn die Spieler passen wollten, mussten sie den Ball anlupfen: wenn das vollgesogene Leder einmal lag, bewegte es sich in den Pfützen kaum noch. So gesehen war es doch große Kunst, wie Franz Beckenbauers Pässe die Mitspieler erreichten. Allzuoft grätschen Spieler – den üblichen Weg des Balls antizipierend – aber auch ins Leere, weil das Spielgerät an diesem Tag wahrhaftig ganz eigenen Gesetzen unterworfen war.

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Sepp Maier glänzte gegen die, wie später oft gesagt wurde, beste polnische Mannschaft aller Zeiten, mit mehreren Paraden, viele Schüsse blieben aber auch schlicht und zum Nutzen der deutschen Mannschaft weit vor dem Tor in Pfützen hängen.

Viel Respekt für den Gegner aus Polen

Dennoch fiel ein Tor durch Gerd Müller, dennoch gab es einen Sieger. Obwohl Uli Hoeneß einen Elfmeter verschoss, gewann Deutschland 1:0. Von Franz Beckenbauer ist im Rückblick der Satz überliefert: „Bei normalen Verhältnissen hätten wir vermutlich keine Chance gehabt.“ Viel Respekt für eine polnische Mannschaft, die dann im Spiel um Platz drei immerhin Brasilien schlug.

Live - und für manchen Fernsehzuschauer erstmals in Farbe: Das WM-Finale 1974 gegen die Niederlande.
Live - und für manchen Fernsehzuschauer erstmals in Farbe: Das WM-Finale 1974 gegen die Niederlande. © dpa

Im Vergleich zur „Wasserschlacht von Frankfurt“ verblasste das Endspiel gegen Holland in der Erinnerung. Aber selbstverständlich war es ein Foul an Bernd Hölzenbein und damit ein Elfmeter für Deutschland. Zumindest, wenn man den Schlagrhythmus des Onkels auf der Sessellehne als Maßstab zählt.

Der Achtjährige hatte trotz des verschossenen Elfmeters einen Helden. Auf dem Bolzplatz wollte er immer Uli Hoeneß sein. Eine Verehrung, die zwei Jahre später wegen eines weiteren verschossenen Elfmeters jäh erkaltete. Wieder vor dem Fernseher. Bei der EM 1976 in Jugoslawien, im Nachthimmel von Belgrad. Noch ein letztes Mal in schwarz-weiß. Es war auch das vorläufige Ende einer Liebe zum Fußball, die mitten im Regen des Sommers 1974 jäh entflammt war.