Houston. Sonntag spielen die Atlanta Falcons und die New England Patriots um den Super Bowl. Die Falken haben noch keinen Titel - das bringt Sympathien.

Kyle Shanahan hat aus den Football-Spielern der Atlanta Falcons in dieser Saison die beste Offensive der NFL geformt. Als ihr Spezial-Trainer hat der 37-Jährige nun Spielzüge zu Papier gebracht, mit denen die Falken am Sonntag im Super Bowl in Houston die New England Patriots besiegen sollen. In einen Rucksack gepackt, nahm er diesen Game Plan mit zur Eröffnungsshow der Super-Bowl-Woche in den Minute Maid Park. Als Shanahan die Heimat der Astros-Baseballer verlassen wollte, bemerkte er leichenbleich den Verlust seines Rucksacks. „Ich muss ihn wiederfinden“, rief er hochnervös. Das Strategiepapier womöglich in den Händen des Finalgegners? Das wäre eine Katastrophe.

Was Sportinteressierten in Deutschland sogleich an Peter Knäbels kuriosen Rucksackverlust erinnert, nahm ein glückliches Ende. Wie der inzwischen entlassene HSV-Sportdirektor bekam Shanahan das Gepäckstück zurück. Ein Journalist hatte den Ranzen, abgestellt im Stadion bei anderen Taschen, versehentlich eingesteckt. Der Schrecken fand ein jähes Ende: Shanahan nahm seine geheimen Informationen wieder in Obhut, ehe die für ihre oftmals unlauteren Absichten bekannten Patriots („Deflategate“) daraus einen Vorteil für das 51. Finale der besten Football-Liga der Welt am Sonntag (0.30 Uhr/Sat 1) hätten schlagen können.

Die großen Fernsehanstalten der USA haben im Park vor dem Medienzentrum in Houston Downtown beeindruckende Außenstudios aufgebaut. Nahezu rund um die Uhr geben dort Experten ihre Einschätzungen zum Finale ab. Beim Sender Fox, diesmal für die Live-Übertragung verantwortlich, erklären zum Beispiel die mehrmaligen Super-Bowl-Sieger Troy Aikman (dreimal Champion mit den Dallas Cowboys) und Terry Bradshaw (vier Ringe mit den Pittsburgh Steelers) New England zum Favoriten für den Showdown am Sonntag.

Bradys Patriots rufen Ablehnung hervor

Die Patriots um Superstar Tom Brady haben landesweit viele Fans, rufen beim Rest des Volkes aber wie kein anderes Team mehr entschiedene Ablehnung als gleichgültige Akzeptanz hervor. „Mich wundert das nicht“, sagt Fox-Chefanalyst Cris Carter, „die Menschen mögen keine Gewinner. Ich glaube, mit jedem Erfolg nehmen sie etwas auf, das sie auf andere abstoßend wirken lässt.“

Das mag nun angesichts einer auf Perfektion und Erfolg getrimmten Nation für Kopfschütteln sorgen. Die sportverrückten Amerikaner haben aber für geliebte Verlierer genauso ein Faible wie für Helden. Sie können sich sogar am immer neuerlichen Scheitern noch mehr ergötzen als an einem Titel-Abonnenten. Weil die Dauerverlierer die emotionaleren Geschichten schreiben, auch wenn sie jährlich wiederholt werden.

Statt der Titelverteidigung der Golden State Warriors wurde es im vergangenen Sommer in den USA daher lieber gesehen, dass die Cleveland Cavaliers mit LeBron James die erste Meisterschaft seit 1964 in den Bundesstaat Ohio holten. Bereits 2004 betätigten sich die Baseballer der Boston Red Sox als Exorzisten: Sie besiegten mit der Meisterschaft über die St. Louis Cardinals, der ersten seit 86 Jahren, den „Fluch des Bambino“, der seit dem Verkauf des legendären Babe Ruth (Spitzname Bambino) 1920 an den verhassten Rivalen New York Yankees auf den Sox gelastet hatte.

Die bekannteste Durststrecke des US-Sports fand ebenfalls im vergangenen Jahr ihr Ende, als die Chicago Cubs den „Fluch der Ziege“ beendeten. Ghostbusters-Darsteller Bill Murray, eingefleischter Fan der „Cubbies“, brach nach dem Erfolg über die Cleveland Indians im legendären Wrigley Field in Tränen aus. Dort hatte sich der Legende nach im Finalspiel am 6. Oktober 1945 der Wirt Bill Sianis mit der Verwünschung „Die Cubs werden nie mehr etwas gewinnen“ aus dem Staub gemacht, nachdem er samt seiner offenbar müffelnden Ziege Murphy des Stadions verwiesen worden war. Chicago verlor die Finalserie trotz einer 2:1-Führung gegen die Detroit Tigers noch mit 3:4. Es mutet wie Hexerei an, dass der zu diesem Zeitpunkt bereits episch zurückliegende letzte Titel aus dem Jahr 1908 satte 108 Jahre auf eine Wiederholung warten sollte.

1999 verloren die Falcons gegen die Broncos

Im American Football müssen die Atlanta Falcons als eines von noch immer 13 NFL-Teams überhaupt erstmal den Super Bowl gewinnen, um von einer Wiederholung träumen zu können. Nur einmal standen sie im Finale: 1999 setzte es ein 19:34 gegen die Denver Broncos. „Ich freue mich so sehr für die Stadt, für die Bewohner“, sagt nun Matt Ryan, der ligaweit beste Quarterback des bisherigen Saisonverlaufs. „Es hat ja schließlich ein bisschen gebraucht, um wieder in einem Super Bowl spielen zu dürfen.“

Atlanta rühmt sich damit, Sportstadt zu sein. Wenn auch eine weitgehend erfolglose. Im Football (NFL/Falcons), Basketball (NBA/Dennis Schröders Hawks) und Baseball (MLB/Braves) ist die Hauptstadt des Bundesstaates Georgia im Südwesten der USA in den Eliteligen vertreten. Nur für die Eishockeyspieler der Thrashers wurde 2011 entschieden, besser innerhalb der NHL umzuziehen und als Jets in Winnipeg/Kanada weiterzumachen. Von den US-Metropolen mit sportartenübergreifend mindestens drei Top-Teams ist Atlanta aber jene, die nach Washington (seit 1991) am längsten auf eine Meisterschaft wartet. Die Braves holten die bisher einzige 1995, zusammengerechnet 75 Saisons ist das her.

Erinnerungen an Atlanta 1996

Anders als eine Ziege bei den Chicago Cubs und ein Spielerverkauf bei den Boston Red Sox steht in Atlanta ein Großereignis für die Erfolglosigkeit. Von Olympia 1996 ist noch in guter Erinnerung, wie der schwerkranke Muhammad Ali das Feuer entzündete. In schlechter Erinnerung haben Besucher von den Coca-Coca-Spielen, als die die Sommerspiele angesichts des Firmensitzes des Getränkeherstellers verschrien waren, dagegen das Verkehrschaos und den Bombenanschlag mit zwei Toten in einem Vergnügungspark behalten.

Von einem Fluch mag Matt Ryan noch nicht sprechen, aber „die Fans in Atlanta haben einen Titel verdient“. Selbst wenn die Stadt dadurch den Charme des geliebten Verlierers ablegen würde. Die Aufmerksamkeit dafür würde Ryan in Zukunft zu gerne nachrückenden Metropolen überlassen. Durststrecken gehen dem US-Sport ja nicht so schnell aus.