Sotschi. Unterschiedlicher hätte die Gefühlslage der deutschen Starter nach dem olympischen Riesenslalom kaum sein können. Während sich Stefan Luitz auf Medaillenkurs liegend einen folgenschweren Patzer erlaubte, präsentierte sich Felix Neureuther fünf Tage nach seinem Autofall in erstaunlicher Verfassung.
Stefan Luitz schüttelte fassungslos den Kopf. Felix Neureuther hatte keinen Grund dazu, aber wäre auch gar nicht dazu fähig gewesen. Der eine patzte auf dem Weg zu einer Medaille im Riesenslalom, der andere freute sich über den achten Platz, weil sein Körper fünf Tage nach einem Autounfall schon wieder zu olympiareifen Auftritten auf Ski fähig ist.
Kann er starten oder muss er verzichten? Keine andere Frage hat die deutsche Sportwelt in den vergangenen Tagen so bewegt. Er konnte – und Wolfgang Maier, der Sportdirektor des Deutschen Ski-Verbandes, bescheinigte Neureuther eine Weltklasse-Vorstellung. Der Mann, der das „Schleudertrauma der Nation“ in den Griff bekommen hatte, heißt Martin Auracher und ist der Physiotherapeut des deutschen Ski-Teams. „Wenn ich im zweiten Durchgang noch schmerzfrei bin, dann hat er ein Schleudertrauma, weil ich ihn so fest umarmen werde“, hatte Neureuther schon nach seinem ersten Lauf gesagt und Auracher in höchsten Tönen gelobt: „Der hat einen Wahnsinnsjob gemacht.“
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Neureuther erlebt ein "sehr großes Wunder"
Als Neureuther nach dem Rennen, das er 1,30 Sekunden hinter Olxmpiasieger Ted Ligety aus den USA beendete, über seine Gefühle nach diesem Hin und Her um seinen Start erzählte, bewegte er seinen Kopf immer noch ganz zaghaft. Auch wenn am Ende 0,59 Sekunden zu Bronze fehlten, ist für den 29-jährigen Neureuther die Ski-Welt wieder in Ordnung. „Es war brutal wichtig, dass ich hier fahren konnte“, sagte er. „Es ist ein sehr großes Wunder passiert. Für diese Ausgangsposition kann ich sehr, sehr zufrieden sein.“
Neureuther, der in dieser Saison erstmals einen Weltcup-Riesenslalom gewonnen hatte, war sich des großen Risikos bewusst, dass er mit seinem Start eingegangen ist. Der kleinste Rückschlag – und es wäre aus gewesen mit seinem Start am Samstag im Slalom. In dieser Disziplin ist er neben dem Österreicher Marcel Hirscher der Topfavorit. Nach dem Riesenslalom ist die Zuversicht von Neureuther für den großen Showdown immens gewachsen. Fünf Tage habe er jetzt nur gelegen, erzählte er, aber jetzt könne er endlich wieder auf Ski stehen. Die verbleibenden Tage will er mit intensivem Training nutzen. „Und dann werde ich am Samstag das machen, was ich am besten kann: Schnell Slalom fahren.“
Neureuthers Teamkollege Stefan Luitz sah dagegen aus, als ob er am liebsten vor Frust im tiefen Schnee versinken würde. Luitz, mit 21 Jahren noch ein Frischling in der Szene, ist der Frank Mill des alpinen Skirennsports. Als einziger hätte der Allgäuer im ersten Durchgang in die Nähe von Ted Ligety, dem überragenden Olympiasieger aus den USA, kommen können. Luitz hatte einen Traumlauf auf den olympischen Hang gezaubert. Ein Tor stand nur noch zwischen ihm und dem Ziel. Ein lockerer Schwung und Luitz hätte auf Silberkurs gelegen. Und was macht der? Er fädelt ein. Aus und vorbei. Ein Tor wurde ihm zum Verhängnis. Wie am 9. August 1986 dem Dortmunder Fußballprofi Mill, der gegen Bayern München den Ball nicht ins leere Gehäuse schob.
Luitz, der selbsternannte Vollidiot
Was er in diesem Moment gedacht habe, wurde Luitz nach seinem unerklärlichen Fauxpas gefragt. Der Sportsoldat verzog das Gesicht und antwortete in zwei knappen Worten, die alles über seinen Seelenzustand aussagten: „Du Vollidiot“. Aber er wolle jetzt den Kopf wieder hoch nehmen und einfach dieses so positive Gefühl mitnehmen, das er bei seiner Gala-Vorstellung bis zum bösen Patzer erlebt habe.
Luitz brauchte Trost an diesem so schwarzen Mittwoch für ihn. Und er bekam den Rückhalt von seinem Kapitän, wie er Neureuther vor Olympia bezeichnet hatte. „Das ist so brutal für den Stefan. Das wünscht man niemandem“, erklärte der Kapitän, „vor allem weil er so cool Ski gefahren ist.“
Mit 21 Jahren ist Luitz noch jung genug, um aus seinem schweren Fehler die richtige Konsequenz zu ziehen. Er muss sich nur das Beispiel eines großen deutschen Skirennläufers vor Augen führen. 1988 schied Markus Wasmaier bei den Olympischen Winterspielen in Calgary im Super-G bereits am ersten Tor aus. Sechs Jahre später gewann er in Lillehammer Gold im Super-G und im Riesenslalom.