Tokio. Dressurreiterin Jessica von Bredow-Werndl holt olympisches Gold und besiegt ihre einstige Lehrerin. Isabell Werth nimmt es sportlich.

Es gab da diesen einen Moment in Tokio, an dem das Verhältnis zwischen der Lehrerin und ihrer einstigen Schülerin hätte kippen können. Wie das so ist, wenn die Lernenden aufsässig werden.

Isabell Werth klopfte ihrem Pferd Bella Rose anerkennend auf den Hals, als sie auf dem Weg auf den Abreiteplatz des Equestrian Parks an Jessica von Bredow-Werndl vorbeiritt. Die 35-Jährige stand dort vor einem Fernseher, auf dem sie Werths Kür im Dressurviereck verfolgt hatte. Sie tippelte vor sich her, das Gefühl, zur Musik der Kino-Romanze La La Land „einen Feuertanz auf Messers Schneide“ geritten zu haben, ließ der Bayerin keine Ruhe. „Ich orientiere mich ja an meinen Landsfrauen“, sagte von Bredow-Werndl und meinte damit vor allem die 17 Jahre ältere Isabell Werth aus Rheinberg. Gold und Silber in der Dressur – darüber entscheiden nur die deutschen Reiterinnen und Reiter.

Jessica von Bredow-Werndl: "Zweite Gold fühlt sich leichter an"

Genau in dem Augenblick, als die siebenmalige Olympiasiegerin die bibbernde Führende passierte, wurde das Ergebnis verkündet: 89,657 Prozentpunkte für Werth – 91,732 hatte von Bredow-Werndl mit ihrer Trakehnerstute Dalera für sich verbucht. Bei der neuen Olympiasiegerin, davon war trotz noch startender Konkurrenz aber auszugehen, brachen alle Dämme. Sie weinte, nahm nun selbst den flotten Schritt auf und lief zu ihrem Mann Max herüber. Jessica von Bredow-Werndl krönte ihr Olympia-Debüt nach dem Triumph am Vorabend mit der Equipe nun auch im Einzel. „Die zweite Gold fühlt sich irgendwie leichter an“, sagte die neue Königin der Dressur und war überwältigt von ihren Gefühlen. „Da laufen gerade wie im Zeitraffer die letzten 20 Jahre meines Reiterlebens vor mir ab – ach nee, es sind schon 30.“

Im Pferdesport ist das nicht wahnsinnig viel, sind ihre erfolgreichen Equipe-Kolleginnen Werth und Dorothee Schneider – die mit Showtime als 15. nur auf 79,432 Prozentpunkte kam – doch schon beide 52 Jahre alt sind. Jessica von Bredow-Werndl sieht sich deshalb auch erst „am Anfang meines Weges“, an dem sie ihrer Lehrerin aber größte Dankbarkeit aussprach – auch wenn sie gerade sportlich gegen sie rebelliert hatte. „Isabell hat mich aufgegangen in der härtesten Zeit meiner Karriere, als ich extreme Selbstzweifel und keinen Trainer mehr hatte“, sagt die Goldene Reiterin aus Tuntenhausen. Nach ihrer Juniorenzeit war das, da nahm die Rheinbergerin Werth sie für fünf Jahre unter ihre Fittiche. „Dafür bin ich noch heute sehr dankbar“, betont von Bredow-Werndl mit Tränen in den Augen.

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Ihr und ihrem Bruder Benjamin, mit dem sie heute ein Dressurausbildungszentrum in Bayern leitet, habe Werth „wertvolle Tools an die Hand gegeben, von denen ich noch heute profitiere.“ Das Stallmanagement erlernen, vormittags abgucken und nachmittags angeleitet werden bei „der Besten der Welt“ – das war die Basis für ihren eigenen Werdegang. „Dass ich nun gemeinsam mit Isabell hier stehen darf – es war wie eine Mission, die ich hatte.“

Werths Anteil am Gold ist zweifelsohne verbrieft, doch den üppigen Blumenstrauß wollte sie nicht annehmen: „Das ist lieb, aber diesen Erfolg hat sich das andere Team um ihren heutigen Trainer und ihre Familie erarbeitet.“ Von Bredow-Werndl räumte ein, im zweiten Medaillenwettbewerb in Japan doch ein wenig Druck gespürt zu haben. „Als ich hier weinte, habe ich doch gemerkt, wie sehr ich dieses Gold wollte.“ In der Mannschaft habe sie nicht viel leisten müssen, um gemeinsam Gold zu gewinnen. „Heute hätte jeder Platz einen Riesenunterschied gemacht, heute ging es darum: Bin ich wirklich Erste?“ Spätestens als die Hymne ihr zu Ehren lief, war die Gewissheit da.

Und Werth? Die hatte für einen Moment gedacht, „dass es doch reichen könnte“. Zwei Prozentpunkte Unterschied waren dann doch recht deutlich. „Wenn ich rausgehe und nicht weiß, was ich anders oder besser hätte machen können, bin ich glücklich – auch mit Silber“, sagte sie. Auch wenn es „die beste Kür“ von Bella Rose war, ordnete Werth das Doppel-Gold ihrer früheren Schülerin als verdient ein: „Das war ja keine Überraschung: Jessi hatte hier in allen Prüfungen die Nase vorn.“

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Dressurreiten geht nicht ohne Gehorchen. Nun kommt die Zeit, in der die Westfälische Fuchsstute Bella Rose nicht mehr so viele Order erhalten wird. Im fortgeschrittenen Pferdealter von 17 Jahren war dies ihr letzter Auftritt auf der Championatsbühne. „Wir werden ihr einen schönen letzten Auftritt aussuchen“, versprach Werth ihrem Lieblingspferd, das wegen vieler Verletzungen um mehr Olympia-Teilnahmen gebracht wurde als nur diese in Tokio. Auf Bella Rose warten nun entspannte Tage am Niederrhein. Wobei: „Ich hoffe, dass sie auch noch mal das Muttersein erleben wird“, sagte Werth. „Aber das werden wir ganz in Ruhe im nächsten Jahr angehen.“

Bella Roses Reiterin, die bei sieben Gold- und fünf Silbermedaillen steht, könnte mit einem neuen Pferd in drei Jahren in Paris mit einem weiteren Sieg Kanu-Legende Birgit Fischer als erfolgreichste deutsche Olympionikin überflügeln. „Ich höre nicht morgen auf, werde aber auch nicht noch mit 100 im olympischen Zirkus unterwegs sein. Es kann es gut, dass wir uns in Paris wiedersehen.“ Ihre Schülerin wird mit Sicherheit auch da sein.