Düsseldorf. Nach Olympia kehrt Tischtennis-Star Timo Boll in den Alltag zurück. Wir haben uns mit ihm über Olympia, Robert Harting und Doping-Strafen unterhalten.

Timo Boll ist von seiner Olympia-Reise gezeichnet. Am kleinen Finger seiner linken Hand ist ein großer schwarzer Fleck. Filzstift-Farbe. Seit seiner Rückkehr aus Rio will jeder ein Autogramm von dem deutschen Fahnenträger und Bronze-Gewinner mit der Tischtennis-Mannschaft. Wir treffen den 35-Jährigen im Deutschen-Tischtennis-Zentrum in Düsseldorf. Noch im Olympia-Trikot und mit Rio-Reisetasche erscheint er zum Gespräch.

Herr Boll, ist so eine Fahne eigentlich schwer?

Timo Boll: Nee, schwer ist sie nicht. Außer, wenn man sie ganz unten nimmt und viel rumschwenkt – da bin ich schon ins Schwitzen gekommen. Bevor es ins Stadion ging habe ich dann auch ganz schön Puls bekommen.

Zumal man ja auch noch recht lange warten muss...

Boll: Die Zeit verging dann doch schnell. Ich bin aber auch gewarnt worden. Dirk Nowitzki hat mir noch gesagt: „Genieß' den Moment, alles geht viel zu schnell vorbei. Das ist etwas Besonderes.“ Ich habe dann auch versucht, jeden Moment in mir aufzunehmen.

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Der Stolz war Ihnen anzusehen. Das waren tolle Bilder. Sind Sie denn als Fahnenträger anders wahrgenommen worden?

Boll: Innerhalb der Olympiamannschaft bin ich schon manchmal mit „Herr Fahnenträger“ angesprochen worden (lacht). Viele sind danach zu mir gekommen und haben mir gesagt, dass sie sich für mich gefreut haben. Das tat dem Herzen auch gut.

Auch in Deutschland hatte man das Gefühl: Es hat den Richtigen getroffen. Tut es gut, dass Ihre Sportart so gewürdigt wurde?

Boll: Für die Sportart ist es sicherlich gut. Und, klar, ich habe mich auch sehr geehrt gefühlt. Auch wenn ich ja eigentlich gar nicht so gerne im Mittelpunkt stehe. Ich bin so gar kein Showman.

Beflügelt so eine besondere Situation auch für den Wettkampf oder ist es eher schädlich?

Boll: Schädlich war es auf keinen Fall. Denn man hat auf jeden Fall schon einmal ein tolles Erlebnis und ist mit einem guten Gefühl in die Olympischen Spiele gestartet.

Timo Boll (r.) mit Sportchef Pit Gottschalk (Mitte) und Redakteurin Melanie Meyer (l.).
Timo Boll (r.) mit Sportchef Pit Gottschalk (Mitte) und Redakteurin Melanie Meyer (l.). © Lars Heidrich / FUNKE Foto Services

Wie viel Zeit lag zwischen der Eröffnungsfeier und ihrem ersten Einsatz?

Boll: Zwei Tage. Ich war aber auch früh wieder im Dorf, hatte keinen Schlafmangel. Eine Ausrede, dass ich deshalb früh im Einzel verloren habe, ist es auf jeden Fall nicht. Das wäre vermessen.

Rio waren ihre fünften Olympischen Spiele. Trotzdem das frühe Aus im Achtelfinale gegen einen in der Weltspitze eher unbekannten Nigerianer. Ist man nach so vielen Olympia-Teilnahmen gelassen, was Niederlagen angeht?

Boll: Im Einzel bin ich relativ entspannt damit umgegangen. Ich wäre in der nächsten Runde auf Weltmeister Ma Long getroffen und wusste, dass da Endstation sein wird. Er spielt einfach eine Klasse besser als alle anderen auf der Welt. Auch als alle Chinesen. Ich war aber nicht mega enttäuscht, weil das Spiel gegen Quadri Aruna nicht komplett an mir vorbei gegangen war, sondern ich einfach einen Tick zu spät meine Taktik gefunden habe. Danach habe ich mich aber schnell wieder aufs Turnier konzentrieren können.

Wie haben Sie die Stimmung erlebt?

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Boll: Am Anfang war es sehr voll bei uns. Eine extreme Stimmung, das habe ich selten so erlebt, so laut. Als ich gegen Quadri Aruna gespielt habe, spielte am Nebentisch ein Brasilianer. Das war auch noch ein enges Spiel. Die haben mitten in die Ballwechsel reingebrüllt, da hast du keinen Ball mehr auf dem Tisch klacken gehört. Auf einmal bricht da mitten in der Konzentrationsphase beim Aufschlag ein ohrenbetäubender Lärm los, das war schon nicht so einfach. Wir waren natürlich froh, dass überhaupt Stimmung war. Aber das Publikum war nicht ganz fair. Es hat sich immer mal einen ausgesucht und den anderen dann mal schön ausgebuht. Das kannten wir nicht so.

Kam es vor, dass durch Ihre Rolle als Fahnenträger Leute etwas von Ihnen wollten, was vorher vielleicht nicht der Fall war? Die Situation vor den Spielen war ja durch das Doping und den Nicht-Ausschluss der Russen politisch sehr aufgeladen.

Boll: Klar, hat man da gleich politisch nachgehakt. Da wird erwartet, dass der Fahnenträger, seinen Senf dazu gibt. Ich war jetzt nicht so krass eingestellt wie Robert Harting. Ich wollte einfach, dass es mal wieder um Sport geht, die Stimmung war so schlecht vorher, auch medial. Das überträgt sich auf die Sportler. Man hat das Gefühl, dass uns gar keiner mehr sehen will, dass nur noch über Politik, Doping und Probleme geredet wird. Wir versuchen einfach, die Leute mit sportlichen Leistungen und auch fair zu begeistern – ich hoffe größtenteils. Da war dann irgendwann der Punkt zu sagen: So, jetzt soll es nur noch um Sport gehen.

So denkt Timo Boll über Hartings Kampf gegen IOC-Chef Thomas Bach 

Diskus-Star Robert Harting soll versucht haben, Sie auf seine Seite im Kampf gegen Thomas Bach, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, zu ziehen...

Boll: Ja, ich kann das auch nachvollziehen. Er ist in der Leichtathletik noch viel härter betroffen. Da möchte er ein Zeichen setzen, damit auch mal irgendwas passiert. Mit dem Generalausschluss Russlands verliert aber auch der Tischtennisspieler, der sicher nicht gedopt hat, und den so ein Schicksal hart treffen würde. Deshalb ist es ein schwieriges Thema, ich sehe immer auch das Einzelschicksal. In Rio habe ich sogar gegen einen Russen gespielt. Hätte er vor zwei Wochen gesagt bekommen, er darf wegen Generalverdacht nicht spielen, da wär' für ihn eine Welt zusammen gebrochen. Er ist im besten Tischtennisalter, hat sein Leben lang dafür trainiert. Man hätte ihm die vielleicht einzige Chance genommen, etwas zu erreichen.

Also sehen Sie schon eher den Einzelsportler, wie Bach das ja auch immer gesagt hat.

Boll: Ich bin allgemein einfach für härtere Strafen. Man soll den Sportlern, wenn sie eindeutig überführt sind, auch ruhig mal ans Geld gehen. Wie man das politisch und juristisch richtig regelt, da bin ich kein Experte. Es muss einfach noch mehr Abschreckung da sein.

Redet man in Ihrer Sportart darüber?

Boll: Bei uns gibt es andere Probleme, was das Material angeht. Da wird versucht, Regularien zu umgehen, um einen Vorteil daraus zu schöpfen. Das ist mehr mein Thema, an dessen Beseitigung ich kämpfe. Das ist eher Materialdoping.

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Woran merken Sie, dass etwas mit dem Schläger, den Belägen nicht stimmt?

Boll: Man spürt es, und man sieht es. Man kriegt das mit und weiß, wer was macht. Ich habe probiert, das hinter den Kulissen auch beim Weltverband klarzumachen, habe aber bislang keinen Elan gesehen, dass es Fortschritte gibt.

Tischtennis ist durch Olympia und auch durch die Medaillen der Männer und Frauen plötzlich wieder präsenter. Ist jetzt ein Boom in Deutschland möglich?

Boll: Schwer zu sagen. Heute einen richtigen Boom auszulösen, ist schwerer geworden, weil es neben dem Fußball so viele Sportarten gibt, die versuchen, die Leute an sich zu ziehen. Olympia ist natürlich immer eine gute Chance. Ich hoffe, wir haben wieder gute Werbung für unseren Sport gemacht. Der ganz große Wurf war es zwar nicht, aber wir haben wieder zwei Medaillen geholt. Das war okay, aber man möchte natürlich auch immer das ganz große Ding bei so einer Gelegenheit erreichen. Aber da waren andere besser.

In Deutschland wurde das schon so wahrgenommen, dass das das Maximale war. Sehen Sie Ihre Sportart eigentlich ungerecht behandelt – im Vergleich zum Fußball? Da wird jetzt ein Spieler für 105 Millionen Euro verkauft. Unvorstellbar. Als Tischtennis-Profi geht es Ihnen sicherlich noch gut, aber nach dieser Elite...

Boll: Auf der einen Seite ist es wie in der Wirtschaft: Der Markt regelt das Ganze. Aber es ist schon schade, dass man kaum noch eine Möglichkeit hat, sich irgendwo zu zeigen, und dass überhaupt mal eine Identifikation mit einer anderen Sportart stattfinden könnte. Früher haben wenigstens die Öffentlich-Rechtlichen eine gewisse Breite gezeigt, aber da geht es ja mittlerweile auch knallhart um Quote. Man ist jetzt in einem Teufelskreis drin, und da ist es schwer wieder auszubrechen. Klar, mich kennt man jetzt in der breiten Öffentlichkeit, aber sonst keinen anderen und auch kein Hintergrundwissen. Der Name ist zwar bekannt, und ein gewisses Image, aber keine Stories oder spektakuläre Dinge über die anderen Spieler. Bei uns gibt es ja auch Typen. Total unterschiedliche Typen. Ich verkörpere mehr den fairen Sportsmann, aber es gibt auch – positiv gesehen – Chaoten oder Verrückte.

Timo Boll mit der deutschen Fahne in Rio de Janeiro.
Timo Boll mit der deutschen Fahne in Rio de Janeiro. © Sascha Fromm

Da freut man sich ja schon über einen Christoph Harting...

Boll: Er hat auf jeden Fall Diskussionen entfacht.

Aber man kennt ihn jetzt.

Boll: Ja, aber sponsorentechnisch hat er sich vermutlich keinen Gefallen getan (lacht). Das war zu extrem, aber man sieht: Es gibt überall Typen, man könnte deshalb auch andere Sportarten gut verkaufen. In China bringen sie die verrücktesten Geschichten, deshalb ist Tischtennis da eine Mediensportart.

Ist es für Sie schade, in China ein größerer Star zu sein als in Deutschland?

Boll: Für mich ist das angenehm. Ich habe hier ein recht normales Leben. Ich kann noch auf die Straße gehen, ohne großen Fanauflauf. Klar, ich werde auch erkannt. Aber alles im Rahmen. Ich kenne aber auch die andere Seite – dieses Star-Sein. Ich kann durch meinem Sport gut leben dank China. Deshalb führe ich das optimale Sportlerleben. Klar, für die Sportart wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit. Für mich persönlich ist es so angenehm.

2017 findet die WM in Düsseldorf statt. Ist ihr Verband modern genug, um das zu vermarkten?

Boll: Der Verband ist gut organisiert, hat alles gut im Griff. Man muss jetzt aber auch modernes Marketing machen, die WM über Social-Media-Kanäle pushen, professionellere Wege gehen. Und da haben wir keinen, der Sponsoren wirklich gut betreut und sich mal was Innovatives ausdenkt. Vielleicht bin ich es, der später mal in so einen Posten rutschen kann. Da haben wir auf jeden Fall noch Nachholbedarf.

Wie Timo Boll seine Zukunft sieht 

Sehen Sie Ihre Zukunft im Marketing? Oder eher als Trainer?

Boll: Auf der einen Seite wäre es schade, wenn ich mein Know-how in den Müll verwerfen oder verbrennen würde. Deshalb würde ich es schon gerne weitergeben können. Aber auf der anderen Seite weiß ich nicht, ob ich jemand wäre, der auch nach der Karriere noch jeden Tag in der Halle verbringen möchte.

Wie war das im Olympischen Dorf? Da kommen ja viele Superstars zusammen. Kann man von denen lernen, wie man mit seiner Sportart auftritt? Bewundert man die?

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Boll: Ich bewundere schon viele Sportler. Ich bin schon ein großer Sportfan.

Wen bewundern Sie am meisten?

Boll: Ich bewundere am meisten die sympathischen Charaktere, die auf dem Boden geblieben sind, trotz allem. Dirk Nowitzki ist hier das populärste Beispiel.

Welche Bekanntschaft haben Sie in diesem Jahr gemacht?

Boll: Ich habe mich mit vielen deutschen Sportlern unterhalten. Mit den anderen kommt man jetzt nicht wirklich in Kontakt. Die sieht man mal beim Essen vorbeilaufen, aber da gehe ich jetzt nicht hin und fange einen Smalltalk an. Da bin ich gar nicht der Typ für. Ich bewundere allein schon, dass einige ins Dorf gehen und von morgens bis abends Autogramme schreiben und Fotos machen. Aber wenn man sie sieht, sind sie alle sehr entspannt. Usain Bolt habe ich einmal gesehen, da hat er sich eine Orange geschnappt und die erstmal an die Hallendecke geworfen und wieder entspannt aufgefangen. Aber die sind natürlich auch alle abgezockt und erfahren.

Hatten Sie ein Einzelzimmer?

Boll: Ja, ich hatte ein Extrazimmer in unserem Appartement. Aber die meiste Zeit ist man im Wohnzimmer, wo auch die Massagepritsche steht und man sich behandeln lässt. In der Freizeit habe ich immer die anderen olympischen Events geguckt. Man hat schon viel Zeit und kommt so nicht auf dumme Gedanken, ist nicht zu touristisch unterwegs.

Wie der Schwimmer Ryan Lochte, der nach einem Ausflug in die Stadt behauptete, ausgeraubt worden zu sein.

Boll: Bevor klar war, dass die Geschichte gar nicht stimmt, gab es für uns fast so eine Art Ausgangssperre. Wir sollten nicht mehr mit dem Taxi fahren. Das hatte schon Konsequenzen für uns alle. Man hat dann aber auch wirklich Angst bekommen.

Haben Sie von den deutschen Athleten jemanden kennengelernt, mit dem Sie noch in Kontakt sind?

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Boll: Robert (Harting) kannte ich schon vorher. Er ist begeisterter Tischtennisspieler. Fragt dauernd, ob ich ihm einen Schläger schicken kann und ob wir mal spielen können. Badminton-Spieler Marc Zwiebler habe ich 2008 kennengelernt, wir haben uns jetzt ausgetauscht, weil wir ähnliche Probleme in unseren Sportarten haben. Er verdient auch in China sein Geld und findet in Deutschland eigentlich gar keine Beachtung. Fabian Hambüchen und einige andere kenne ich natürlich auch schon länger. Und mit den Tennisspielern habe ich mich auch viel unterhalten. Ich kann mir gut vorstellen, dass meine Kleine irgendwann mal Tennis spielt. Ich habe einen kleinen Tennisplatz in unserem Garten gebaut. Dann fragt man bei denen mal nach, wie das so läuft, gerade in jungen Jahren. Auf was man da achten soll, kundschaftet ein bisschen aus.

Wie alt ist ihre Tochter jetzt?

Boll: Sie wird im Dezember drei, wird also allerhöchste Zeit jetzt (lacht).