Erle. Die Gelsenkirchenerinnen verloren das Finale um die erste Deutsche Frauenfußball-Meisterschaft. Und trotzdem flog nachher am Forsthaus die Kuh.
Für die jüngere Generation, die sich für Frauenfußball interessiert, ist es kaum vorstellbar, dass es mal eine Zeit gab, in der der Deutsche Meister nicht VfL Wolfsburg oder FC Bayern München hieß. Nachdem der Deutsche Fußball-Bund bis 1970 gewartet hatte, das Spiel mit dem runden Leder auch dem weiblichen Geschlecht zu erlauben, waren es zunächst die sogenannten kleinen Vereine, die in dieser Sportart den Ton angaben. Einer dieser Klubs war, man mag es kaum glauben, Eintracht Erle aus dem Gelsenkirchener Osten.
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Die Erlerinnen erreichten 1974 das erste Endspiel um die Deutsche Frauenmeisterschaft. Damals gab es noch keine Bundesliga. Der Gegner der Eintracht am 8. September im Mainzer Bruchwegstadion hieß TuS Wörrstadt – eine Mannschaft aus Rheinland-Pfalz, die damals absolut führend war in Deutschland. Der Klub aus dem Landkreis Alzey-Worms hatte im ersten deutschen Frauenfußball-Finale deutliche Vorteile, nicht nur auf den Zuschauerrängen, die nicht zuletzt wegen der räumlichen Nähe zu Mainz zum großen Teil mit Sympathisanten des späteren Meisters besetzt waren, sondern vor allem auch auf dem Spielfeld.
Gisela Comlsee: „Die Wörrstädterinnen waren wirklich besser als wir“
„Die Wörrstädterinnen waren wirklich besser als wir“, sagt Gisela Colmsee, die im Finale als Offensivverteidigerin für die Eintracht zum Einsatz kam. „Wir sind überrannt worden.“ Die Erlerinnen verloren das Endspiel klar mit 0:4 und waren wohl noch geschlaucht vom Halbfinale, das nur einen Tag zuvor in Bingen mit 3:1 gegen den SV Bubach/Calmesweiler gewonnen werden konnte.
Obwohl es am Ende nicht zum ganz großen Coup reichte, fuhren die Eintracht-Frauen und ihr Trainer Lothar Dembinski nach der ersten Enttäuschung hoch erhobenen Hauptes und voller Stolz zurück nach Gelsenkirchen. Immerhin hatte die Eintracht erst drei Jahre zuvor eine Frauenfußball-Abteilung ins Leben gerufen. „Als wir nach unserer Rückkehr an unserem Lokal am Forsthaus in Erle ankamen, haben wir die Kuh fliegen lassen“, erinnert sich die heute 67 Jahre alte Gisela Colmsee.
3:0 durch Bärbel Wohlfahrt – das Tor des Monats in der ARD-Sportschau
Die Tage in Bingen und in Mainz waren ein absolutes Erlebnis für die blütenreinen Amateurspielerinnen aus Erle. „Das ganze Drumherum, das kannten wir so nicht“, berichtet Gisela Colmsee, die damals bei St. Georg in der Pflege arbeitete. Ein Bus brachte die Mannschaft und ein paar Fans in die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt. Es wurde in einem ziemlich guten Hotel übernachtet, und in einem noch besseren Hotel führte der DFB den Empfang der Endrundenteilnehmer durch.
Regine Israel trifft dreimal für den TuS Wörrstadt
Mit diesen zwölf Spielerinnen trat Eintracht Erle am 8. September 1974 gegen den TuS Wörrstadt im ersten Endspiel um die Deutsche Frauenfußball-Meisterschaft an: Elisabeth Jagielski, Gisela Colmsee, Marion Molenkamp, Inge Wellpoth, Sabine Walter, Edeltraut Kruzik, Christel Kurowski, Regina Klose, Gabriele Kordalski, Doris Gard, Petra Kaminski (39. Waltraud Klapschinski). Trainer war Lothar Dembinski, der zu dieser Zeit auch als aktiver Spieler für die Amateurmannschaft des FC Schalke 04 im Einsatz war.
Die Torfolge: 1:0 Regine Israel (25.), 2:0 Regine Israel (36.), 3:0 Bärbel Wohlleben (42.), 4:0 Regine Israel (48.).
Im alten Mainzer Stadion am Bruchweg erwarteten 3800 Zuschauer die beiden Finalisten aus Wörrstadt und aus Erle. Eine für ein Frauenspiel auch damals schon sehr ungewöhnliche Kulisse. „Da hatte man schon beim Einlaufen Muffensausen“, erinnert sich Gisela Colmsee. Das Spiel wurde in Ausschnitten in der ARD-Sportschau gezeigt. Die Zuschauer konnten deshalb bundesweit auch das 3:0 durch Bärbel Wohlfahrt sehen – und wählten diesen Treffer später zum Tor des Monats. Es war das erste Tor des Monats einer Frau.
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Die Partie dauerte damals zweimal 35 Minuten. Bereits nach 48 Minuten war das letzte von insgesamt vier Toren für die von Erwin Hartmann trainierten Wörrstädterinnen gefallen. Anne Trabant-Haarbach, die spätere Nationalspielerin und Bundestrainerin, verschoss danach noch einen Elfmeter für den ersten Deutschen Meister im Frauenfußball. „Der TuS Wörrstadt hatte richtig starke Spielerinnen in seinen Reihen“, erinnert sich Gisela Colmsee auch noch mehr als 46 Jahre danach.
Wechsel zum FC Schalke 04 im Jahr 1975
Aber auch die Erlerinnen konnten durchaus mit dem Ball umgehen. Der Weg ins Finale war steinig. In den Spielen um die Deutsche Meisterschaft erreichte die Eintracht nach Siegen über den Buxtehuder SV (2:0), Werder Bremen (5:1) und Tennis Borussia Berlin (2:1) das Halbfinale. Zuvor mussten sie sich in den Spielen um die Westfalenmeisterschaft und in der Bezirksliga, der damals höchsten Spielklasse, durchsetzen.
„Gelsenkirchen war früher eine Hochburg im Frauenfußball“, erzählt Gisela Colmsee. Nicht nur die Erlerinnen hatten eine gute Mannschaft, sondern auch Borussia Scholven, Resser Mark, ETuS Gelsenkirchen und die DJK Blau-Weiß. „In den Derbys ging es immer heiß her“, sagt Gisela Colmsee mit einem Schmunzeln. „Das war nicht ohne.“
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Ein Jahr nach dem Gewinn des Vizemeistertitels erreichten die Erlerinnen als Westfalenmeisterinnen erneut die Spiele um die Deutsche Meisterschaft. Sie scheiterten im Viertelfinale am späteren Meister Bonner SC. Danach endete das Kapitel Frauenfußball bei der Eintracht. Aufgrund der hohen Unterhaltungskosten, auch wegen der überregionalen Spiele, wechselte die gesamte Frauenmannschaft zum FC Schalke 04.
2000 Zuschauer sehen an der Oststraße einen 5:0-Sieg der Königsblauen
Der Eintracht gelang es, sozusagen als Ablöse, ein Freundschaftsspiel der beiden Männer-Mannschaften herauszuschlagen. Vor 2000 Zuschauern an der Oststraße setzten sich die Profis der Königsblauen mit 5:0 gegen die in der Kreisliga A spielenden Erler durch.
Auch im Trikot des FC Schalke 04 blieben Gisela Colmsee und ihre Mitspielerinnen erfolgreich. Die weiblichen Knappen nahmen fünf weitere Male, und zwar 1977, 1980, 1981, 1984 und 1985, an den Spielen um die Deutsche Meisterschaft teil. Sie schieden aber jeweils nach der ersten Runde aus. So weit wie die Pionierinnen der Eintracht im Jahre 1974 kam danach keine andere Frauenmannschaft aus Gelsenkirchen mehr.