Essen. Tim Vößing holt sich den WM-Titel der WBO bei den Junioren im Cruisergewicht mit einem Abbruchsieg. Doch der Student bleibt seinem Prinzip treu.
Hey Glückwunsch! Komm, lass dich drücken. Handy raus: hier ein Selfie, da ein Foto, mal im Ring, mal daneben. Mit einem Weltmeister kann man sich gut sehen lassen. Der Gratulationscour im Essener ChorForum dauerte länger als der Kampf, in dem sich Tim Vößing zum Profi-Weltmeister der Junioren im Cruisergewicht machte.
Der Champion, ohne Schramme, ohne Beule, noch mit blankem Oberkörper und dem bekannt protzigen Gürtel des Triumphators um die Hüften, ließ sich gerne und geduldig feiern. Ist doch selbstverständlich wie seine Dankesrede, die fast an eine Oscar-Nacht erinnerte. Und die ganze Zeit sah man dem jungen Mann den Stolz an, die Freude, die seine Aussage beglaubigt: „Ich boxe nur aus Spaß.“
Das muss ein gutes Gefühl sein: Erst 23 Jahre alt und schon weltweit der Beste – zumindest im Verband WBO und auch „nur“ in der Juniorenklasse, wo Vößing nun die Altersgrenze erreicht hat. Aber drei andere große Weltverbände lassen den Nachwuchs bis 24, einer sogar bis 25 Jahre um den WM-Titel boxen. Das System ist ja in allen Kampfsportarten alles andere als übersichtlich.
Tim Vößing im Sparring mit einem kubanischen Top-Ten-Boxer
Egal, Essen hat einen Junioren-Weltmeister. Und Vößing hat es sich verdient. „Train hart and fight easy“, beantwortet der Boxer die Frage, ob die Vorbereitung schwieriger gewesen sei als der Kampf selbst. Vößing hatte sich intensiv vorbereitet, war sogar Sparringspartner von Mike Perez (400 Amateurkämpfe), dem kubanischen Schwergewicht aus der Top Ten der Welt. „Der hat mich wirklich weitergebracht“, sagt Vößing. Es sei schwierig für Perez, einen Sparringspartner zu finden, „weil er die meisten wirklich hart bearbeitet, die zum ersten Mal zum Training kommen. Ich war aber der Einzige, der immer wieder gekommen ist, und deswegen hat er ein bisschen Gefallen an mir gefunden und mir geholfen, mich weiterzuentwickeln.“
Wie weit Tim Vößing in der Entwicklung ist im Vergleich zu seinem Gegner Robin Hartwick, wurde an diesem Abend schnell deutlich. Der 21-jährige Aschaffenburger stand zwar vor dem Duell in der Weltrangliste unter den Top 100 etwa 150 Plätze vor Vößing, aber im Ring war er chancenlos. Anfangs waren die beiden Kämpfer noch gleichwertig, boxten technisch sauber, es war gut anzusehen. Doch schon in Runde drei nagelte der Lokalmatador seinen Widersacher in der Ecke fest. Und als sich das in Runde vier fortsetzte, flog aus der gegnerischen Ecke das Handtuch in den Ring.
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Trainer Sebastian Tlatlik war selten so entspannt bei einem Kampf
Vößings Trainer Sebastian Tlatlik hatte bis dahin fast gelassen seinen Schützling beobachtet, brauchte überhaupt nicht einzugreifen. „Selten so ruhig in der Ecke gestanden“, gab Tlatlik zu. Doch als der Sieg feststand, hüpfte das kleine Kraftpaket ins Ringviereck und strahlte mit allen anderen um die Wette. Auch dem Coach war der Stolz anzusehen. Tlatlik war ja selbst einmal Deutscher Meister, doch im Training hat er bisher noch nie einem solch erfolgreichen Boxer die Pratzen hingehalten. Selbst der Verlierer an diesem Abend wirkte nicht unglücklich über die spontane Erlösung. Es war wohl die Weitsicht seines Trainers, der Hartwick vor einer Tracht Prügel bewahrte.
Hier gibt es die Fotos zum Kampf von Tim Vößing im Essener Chor-Forum
Überrascht wurde Vößing von der Aufgabe nicht. „An der einen oder anderen Stelle hat man schon gemerkt, dass er angeschlagen war.“ Vößing aber wollte nicht gleich alles auf eine Karte setzen, nur um seinen Widersacher in den Staub zu schicken. „Er hatte es darauf angelegt, den einen entscheiden Schlag zu setzen, da musste man schon aufpassen“, erklärte Vössing und hörte sich an wie ein alter Hase. „Tim hat ihn zermürbt“, meinte sein Coach. „Seine linke Führhand ist ganz stark.“
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Vößing ist bei den Männer Deutscher Meister geworden
Deutscher Profi-Meister bei den Männern ist Tim Vößing vor Kurzem geworden. Neun Kämpfe, neun Siege, vier davon mit K.o.. Und mit der Referenz, Weltmeisters zu sein, dürften sich ihm im Boxgeschäft einige Türen öffnen. Doch daran denkt Vößing erstmal nicht. „Ich werde mich fit halten und fünf, sechsmal die Woche trainieren, aber ich werde jetzt vor allem mein Studium wieder intensivieren“, sagt der Student der Elektro- und Informationstechnik.
Mal sehen, was da noch kommt, internationale Titelkämpfe wären möglich mit einer ordentlichen Gage. „Für das Geld mache ich es aber nicht“, widerspricht Vössing entschieden, obwohl er wie seine künftigen Gegner im „Anschaffungspreis“ nun wesentlich teurer geworden ist. „Ich boxe aus Leidenschaft. Gut, wenn die irgendwann dann auch mal bezahlt würde, hätte ich natürlich auch nichts dagegen.“ Aber grundsätzlich investiere er das Geld lieber wieder ins Boxen, zum Beispiel in einen Kampfabend wie im ChorForum.
Fast wie eine kleine Familienfeier im Essener ChorForum
Dort war’s mit den rund 350 Fans fast wie eine Familienfeier. Irgendwann zog die Karawane an dem Abend weiter zur After-Show-Party in die Checkin Bar am Flughafen Essen/Mülheim. „Da trinke ich heute auch mal ein Bier“, sagte Tim Vößing. Macht er sonst nie, aber Weltmeister wird man eben nicht alle Tage. Und der Titel bleibt für immer, auch wenn Trainer Tlatlik ihm irgendwann vielleicht den Gürtel abnehmen wird, um diesem in seinem Gym der „Boxing Industry“ zu hängen. Als Vorbild für alle.
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