Region. Deutsche Spitzenathletinnen turnen bei der EM in Ganzkörperanzügen. Das macht auf ein Problem aufmerksam, das es auch an der Basis gibt.
Deutschlands Spitzenturnerinnen Sarah Voss, Elisabeth Seitz und Kim Bui sind spätestens seit den Europameisterschaften am vergangenen Wochenende in aller Munde. Nicht etwa, weil sie Medaillen gewannen, sondern weil sie in Ganzkörperanzügen ihre Übungen an den Geräten durchführten.
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Ein ungewöhnlicher Schritt im Geräteturnen, wo normalerweise weniger Stoff mehr ist – betroffen sind allein in NRW rund 165.000 junge Turnerinnen unter 30.
„Wir sind ja auch Vorbilder für jüngere Athletinnen. Deshalb wollen wir natürlich alle ermutigen, in jeglicher Hinsicht für sich einzustehen. Vor allem immer dann, wenn man sich unwohl fühlt“, sagte Sarah Voss. Ein Problem, mit dem sich nicht nur die deutschen Olympiakandidatinnen beschäftigen, sondern auch viele junge Turnerinnen in den Sportvereinen im Ruhrgebiet.
Das Signal der deutschen Turnerinnen kommt an der Basis gut an
„Ich finde das Signal der deutschen Turnerinnen bei der EM sehr wichtig“, sagt Natascha Kewitz Trainerin und Sprecherin des TV Deutsche Eiche Bottrop.
Die kleineren Mädchen würden sich über ihren Turnanzug weniger Gedanken machen als etwa die 13-, 14-Jährigen. Der weit ausgeschnittene Turnanzug gibt die Sicht auf das komplette Bein frei, rutscht und zwickt und bleibt während der Übungen nicht immer da, wo er sein sollte. „Und an einigen Stellen ist einfach sehr wenig Stoff“, sagt Kewitz.
Im Training tragen alle Turnerinnen lange Anzüge
Als sei das nicht schon unangenehm genug, besonders für Mädchen in der Pubertät und insbesondere dann, wenn Fotografen bei Wettkämpfen im falschen Moment auf den Auslöser drücken, gibt es laut Regelwerk auch noch Punktabzug, wenn der Anzug während der Übung wieder an Ort und Stelle gezupft wird.
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Auch Aileen Ottofrickenstein, Geschäftsführerin der Turnabteilung des TuS Witten-Stockum, Trainerin und selbst bis vor zwei Jahren Leistungsturnerin, ist begeistert von dem Zeichen der deutschen Athletinnen bei der EM. „Endlich werden diese Anzüge mal zum Thema“, sagt sie. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie unangenehm die Wettkampfkleidung im Vergleich zum Training ist. „Eigentlich jede Turnerin turnt mit kurzer Hose, außer im Wettkampf“, sagt Aileen Ottofrickenstein.
Sportlerinnen haben mehr Angst vor dem Anzug, als vor den Übungen
Ihre Sportlerinnen gestanden ihr sogar, dass sie im Wettkampf oft mehr Angst vor dem Verrutschen des Turnanzugs hätten als vor der Übung an den Geräten. „Und bei den meisten Sportlerinnen ist nicht mal bekannt, dass lange Hosen getragen werde dürfen“, sagt Ottofrickenstein, die allerdings auch um die Gegebenheiten in ihrem Sport weiß. „Da geht es ja auch um Ästhetik. Da wollen die Mädchen dazu gehören, nicht auffallen, nicht aufmüpfig sein.“ Zudem gäbe es in einigen Vereinen eine Trainer-Mentalität die da lautet: „Das haben wir schon immer so gemacht, stell dich nicht so an.“
Ein weiteres Problem: Aus optischen Gründen wird in vielen Vereinen Wert darauf gelegt, dass die Mädchen einen knappen Slip unter dem Anzug tragen, damit die Unterwäsche nicht zu sehen ist. „Manche Vereine verbieten sogar Unterhosen unter dem Turnanzug“, sagt Andrea Drzewiecki, Präventionsbeauftragte und Kampfrichterin beim Rheinischen Turnerbund.
Eltern fragen nach – akzeptieren dann aber die kurze Kleidung
Auch wenn die Wertungsrichter angehalten sind „unabhängig von Alter, Aussehen und der Optik der Sportlerinnen eine faire Bewertung abzugeben, weiß ich nicht, ob das jeder so objektiv hinbekommt“, so Drzewiecki. Dabei ist im sogenannten Code de Pointage zwar seit einigen Jahren auch festgehalten, dass in langen Hosen geturnt werden darf – Gebrauch machen davon aber die wenigsten.
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Gerade bei Anfängern würden Eltern auch mal nachfragen, warum in Wettkämpfen keine langen Sportsachen getragen werden, die meisten „finden sich dann aber damit ab und akzeptieren es“, so Drzewiecki. Damit die Anzüge nicht verrutschen, würden sich manche Sportlerinnen mit Kleber behelfen, bestimmte Übungen würden zudem so gestaltet werden, „dass sie nicht in Richtung der Kampfrichter oder des Publikums ausgeführt werden“, sagt Angela Sommerfeld vom TSV Viktoria Mülheim.
Alles in allem keine schöne Situation für die Protagonistinnen. Folglich könnte der Auftritt von Sarah Voss und Co eine Signalwirkung für den Nachwuchs haben.
In Mannschaftswettkämpfen ist ein einheitliches Outfit Pflicht
„Wenn jetzt eine Turnerin zu mir kommen und fragen würde, ob sie in langer Hose antreten darf, dann würde ich sie selbstverständlich in einer langen Hose turnen lassen“, betont Natascha Kewitz, die möchte, dass sich ihre Sportlerinnen nicht nur im Training, sondern auch im Wettkampf wohl fühlen.
Problematisch wird es aber dann, wenn Mannschaftswettkämpfe anstehen. Dann nämlich muss das gesamte Team einheitlich auftreten. Möchte eine Turnerin im langen Anzug turnen, müssten es ihre Teamkolleginnen ihr gleich tun. „Die Kosten wären wesentlich höher. Eine Alternative wären lange Hosen in der gleichen Farbe, in der der Anzug ist“, sagt Angela Sommerfeld. Tritt ein Team nicht geschlossen auf, gibt es Punktabzug für die gesamte Mannschaft.
Hotpants wären für die Sportlerinnen eine gute Lösung
Was hinzu komme, gibt Natascha Kewitz zu bedenken, ist, dass sich der Stoff der langen Hose „natürlich anders als die Haut“ beispielsweise am Barren oder am Reck verhalte. „Das Material macht das Turnen an einigen Geräten dann schon schwierig.“
Nicht nur der Halt am Barren ist ein möglicher Kritikpunkt an der langen Hose, im Sommer werde es in Turnhallen sehr heiß, „dann wäre etwas weniger Stoff schon hilfreich“, sagte die Trainerin des TV Deutsche Eiche Bottrop und verweist auf eine Alternative: „Im Training tragen fast alle Mädchen Hotpants über ihren Turnanzügen. Das wäre die optimale Lösung, denn dann ist genug Stoff da, wo er benötigt wird. Geturnt werden kann aber immer noch problemlos“, so Kewitz. Das Problem: Das Regelwerk untersagt das Tragen von Hotpants im Wettkampf.
Turnerbund denkt über Regelanpassung nach
Der Rheinische Turnerbund hat das auf dem Schirm und denkt darüber nach, die Regeln anzupassen. Das können die einzelnen Verbände bis hinunter auf die kommunale Ebene im Übrigen auch autark entscheiden. „Wir überlegen, wie wir die Regeln erweitern können, so dass sich jede Turnerin wohlfühlt“, sagt Andrea Drzewiecki.
Bei älteren Turnerinnen sei es viel verbreiteter, dass in langen Anzügen auch im Wettkampf geturnt wird. „Bei den Seniorinnen ab 30 ist der lange Anzug etablierter, weil es vielen dann unangenehm ist, bestimmte Posen zu machen oder in den kurzen Anzügen fotografiert zu werden“, sagt Andrea Drzewiecki. Bei den jüngeren, glaubt sie, dass es die „Macht der Gewohnheit“ sei, dass überwiegend in den kurzen Anzügen geturnt wird.
Das Tabu soll gebrochen werden
Inwieweit der Vorstoß des deutschen Spitzen-Trios daran etwas ändert, wird sich zeigen. Beim TuS Witten-Stockum ist das Signal aber bereits angekommen. „Meine Mädels haben sich direkt nach dem Wettkampf bei mir gemeldet und gesagt, wie toll sie es fanden, dass ihre Vorbilder in langer Hose geturnt haben“, berichtet Aileen Ottofrickenstein.
„Es ist wichtig, dass das Thema ‘Anzüge’ kein Tabu mehr ist und endlich auch Veränderungen möglich scheinen“, betont sie. Dass eben nicht alles so bleibt, wie es immer schon war, obwohl es jungen Sportlerinnen große Unannehmlichkeiten bereitet.