Essen. Dagur Sigurdsson hat als Trainer der Füchse Berlin und der deutschen Handball-Nationalmannschaft in Personalunion eine Menge zu tun - ohne allerdings die Gefahr der Überforderung zu sehen. Ein Gespräch über isländische Eigenheiten, seinen Job beim DHB und die Zukunft des deutschen Handballs.
Auch wenn Dagur Sigurdsson von Spiel zu Spiel hetzt und stundenlang Partien per Video analysiert, diesem Mann ist der Stress nicht anzusehen. Vielleicht liegt es daran, dass er Isländer ist. Der 41-Jährige ist seit einigen Wochen Trainer des Bundesligisten Füchse Berlin und der deutschen Handball-Nationalmannschaft in Personalunion. Zwischen dem Pokalsieg am Mittwoch bei Tusem Essen und der Bundesligapartie am Sonntag gegen Melsungen erzählt Sigurdsson, wie er beim Hundespaziergang zur Bäckerei mit seiner Frau den Entschluss fasste, das Bundestrainer-Angebot anzunehmen, über isländische Eigenheiten und die Herausforderung, die Nationalmannschaft wieder nach oben zu führen.
Herr Sigurdsson, Sie haben kürzlich gesagt, mit zwei gleichzeitigen Jobs könne man ein wenig verrückt im Kopf werden. Davon ist noch nichts zu merken.
Dagur Sigurdsson: Nein, das war auch nicht ganz ernst gemeint. Ich schaue schon sehr, sehr viel Handball derzeit. Aber in Island haben viele zwei Jobs. Vor allem nach der Wirtschaftskrise. Es ist lange dunkel und man kann viel ackern im Winter.
Alfred Gislason trainiert den deutschen Rekordmeister THW Kiel. Sie sind Bundestrainer und haben die Füchse Berlin zum Pokalsieg geführt. Es gab schon viele sehr erfolgreiche Handballtrainer in Deutschland, die aus der 325.000-Einwohner-Insel Island kommen. Wie ist das zu erklären?
Sigurdsson: Handball hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert. Wenn ein Spiel der Nationalmannschaft übertragen wird, sitzen 80 Prozent der Isländer vor dem Fernseher. Wenn du als Profi-Trainer arbeiten willst, musst du allerdings ins Ausland gehen. Es hat sich rumgesprochen, dass isländische Trainer gute Arbeit leisten. Die Mentalität der Isländer und Deutschen passt gut zusammen.
Wie bekannt sind Sie in Ihrer Heimat?
Sigurdsson: Alle Handballer und Fußballer sind sehr populär. Außerdem sind wir in Island nur 325.000, da kennt man sich.
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In Berlin können Sie wahrscheinlich noch unerkannt durch die Stadt gehen.
Sigurdsson: Ja, ich werde nur selten erkannt.
Das kann sich jetzt als Bundestrainer ändern, auch wenn Sie keinen so markanten Schnäuzer haben wie Heiner Brand.
Sigurdsson: Das wird man sehen. Ich brauche das aber nicht.
Als Jugendlicher haben Sie sieben Fußball-Länderspiele für das isländische U 17-Team gemacht. Warum sind Sie nicht Fußballer geworden?
Sigurdsson: Ich bereue nichts, obwohl ich Fußball unheimlich mag. Mein Vater Sigurdur Dagsson war ein großer Fußballer in unserer Nationalmannschaft. In Island konnte man früher nur vier Monate im Sommer Fußball spielen, danach gingen die gleichen Jungs zum Handball in die Halle. So bin ich beim Handball hängengeblieben. Zwei meiner drei Kinder spielen in Berlin Fußball. Mein zwölfjähriger Sohn bei Tennis Borussia.
Hat er Talent?
Sigurdsson: Ja, das hat er. Aber wir Isländer machen keinen Druck. In Deutschland sieht man schon bei Spielen von Siebenjährigen großen Wettbewerb untereinander. Vor allem der Eltern. Wir versuchen, den Kindern den Spaß zu erhalten. Wenn sie mit 15, 16 mehr wollen, ist dafür noch Zeit genug.
Jetzt erobern die Isländer auch noch den europäischen Fußball.
Sigurdsson: Das ist eine große Sache. Wir führen mit 9 Punkten aus drei Spielen und 9:0 Toren unsere Gruppe in der EM-Qualifikation an. Aber noch hat die isländische Handball-Nationalmannschaft einen noch größeren Stellenwert.
Wie groß schätzen Sie den Stellenwert des Handballs in Deutschland ein?
Sigurdsson: Sehr positiv. Das Interesse ist sehr groß, die Hallen sind voll.
Wie lange haben Sie überlegt, als Ihnen der Bundestrainer-Job angeboten wurde?
Sigurdsson: Nicht lange. Ich habe einen kleinen Spaziergang mit meiner Frau und dem Hund zum Bäcker gemacht. Da bespricht man die wichtigen Dinge des Lebens. Nach 15 Minuten war uns klar, ich mache es.
Was hat den Ausschlag gegeben?
Sigurdsson: Erstens die große Tradition des Handballs, zweitens die Bundesliga als beste Liga der Welt und drittens die vielen Talente. Ich wollte etwas Neues machen, raus aus der Komfortzone.
Brauchen Sie neue Herausforderungen?
Sigurdsson: Ja. Ich habe schon häufiger Entscheidungen getroffen, die viele Leute komisch fanden.
So wie ihr dreijähriges Engagement als Handballer in Japan?
Sigurdsson: Für mich war es ein logischer Schritt, viele hielten mich für verrückt. Ich habe es als Privileg empfunden, dort ein ganz neues Leben mit einer neuen Kultur, mit anderem Essen, anderer Musik, und, und, und kennenzulernen. Man bekommt einen ganz neuen Blick auf das Leben.
Sigurdsson über die Doppelbelastung: "Ich kriege das locker hin"
In Berlin haben Sie mit Manager Bob Hanning die Füchse zu einem Spitzenklub gemacht und in diesem Jahr sogar den deutschen Pokal gewonnen. Im Moment stehen Sie in der Bundesliga nur auf Rang zehn. Im Fußball würde schnell die Diskussion los gehen, ob die Doppelbelastung als Vereins- und Bundestrainer nicht daran schuld sei.
Sigurdsson: Solche Aussagen hat es jetzt auch schon gegeben. Aber meist von Leuten, die davon keine Ahnung haben. Ich weiß, ich kriege das locker hin. Wir hatten viele Verletzungsprobleme. Wir können jedoch noch alle Saisonziele erreichen.
Wie bekommen Sie die zwei Aufgaben im Verein und im Nationalteam unter einen Hut?
Sigurdsson: Natürlich bin ich zeitlich mehr belastet, doch es ist ja bis zum Saisonende begrenzt. Und es ist ja nicht so, wie viele denken, dass ich pausenlos durch ganz Deutschland fahren und mir etliche Spiele ansehen muss. Auf meinem Computer habe ich mit einem Knopfdruck alle Bundesligapartien zur Verfügung. Wenn ich beispielsweise einen Spieler für den linken Rückraum nominieren will, schaue ich mir die Kandidaten auf Video an und tausche mich dann mit deren Bundesligatrainern aus.
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hat zuletzt oft enttäuscht. Wo liegen die Probleme?
Sigurdsson: Diese Diskussion fange ich erst gar nicht an. Ich werde meinen Job doch nicht negativ angehen.
Aber Sie müssen die Fehler beheben.
Sigurdsson: Klar. Und ich biete in alle Richtungen meine Hilfe an. Wir müssen jedoch positiv und nicht negativ denken. Mit jungen Leuten zu arbeiten, das macht mir riesigen Spaß.
Am Mittwoch geht es in der EM-Qualifikation in Gummersbach gegen Finnland, einige Tage später wartet die Aufgabe gegen Österreich. Sind zwei Siege Pflicht?
Sigurdsson: Erst einmal will ich das erste Spiel gegen Finnland gewinnen. Und Österreich hat bei der WM die Tschechen mit zehn Toren Unterschied bezwungen, während wir gar nicht dabei waren.
Bei der nächsten WM im Januar in Katar ist Deutschland als Nachrücker dabei. Wie können wir dieses Geschenk nutzen?
Sigurdsson: Bei der WM haben wir eine sehr ausgeglichene Gruppe erwischt. Da kommt es auf Kleinigkeiten an. Ich liebe Spiele, in denen es um Kleinigkeiten geht. Aber erst einmal liegt unser Fokus auf der EM-Qualifikation.
Bei Ihrem Doppel-Job werden Sie jetzt kaum zum Urlaub kommen. Aber wo macht ein Isländer Urlaub?
Sigurdsson: In Island. Meine Kinder verbringen gerade dort ihre Herbstferien. Und irgendwann gehen wir alle zurück, obwohl es nur so kurz hell wird. Die Sonne im Herzen, das reicht.