Wolfsburg. „Ich bin stolz“, sagte Gündogan nach dem 1:1 gegen Serbien und beweist so, dass es auch einen anderen Weg gibt als den von Mesut Özil.

Während es sich die meisten Spieler schon im Mannschaftsbus bequem gemacht hatten, stand Ilkay Gündogan immer noch im Innern des Wolfsburger Stadions. Mit ruhiger Stimme, gesenktem Blick, fast demütig, berichtete der 28-Jährige über eine Geste, die von den Fans ziemlich geräuschlos zur Kenntnis genommen wurde, die aber eigentlich eine besondere war. Nach der Erdogan-Affäre im Sommer 2018, den Pfiffen, den Rassismus-Vorwürfen, dem dramatischen DFB-Austritt von Mesut Özil stülpte sich Gündogan nun beim 1:1 (0:1) gegen Serbien in der zweiten Hälfte die Kapitänsbinde über. Sein 30. Länderspiel war sein ganz persönlicher Neuanfang.

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Der ausgewechselte Manuel Neuer überreichte dem 28-Jährigen nach den ersten 45 Minuten in der Kabine das nur kleine, aber symbolbehaftete Stück Stoff. „Ich habe mich umgeschaut und hatte das Gefühl, dass Ilkay von den Spielern, die dafür infrage kamen, der erfahrenste ist", erklärte Bundestrainer Joachim Löw. „Es war unerwartet“, erzählte Gündogan selbst. „Aber natürlich habe ich die Binde mit großem Respekt und Stolz entgegengenommen.“

Erdogan-Affäre

Doch so alltäglich es normalerweise wäre, dass der erfahrenste Akteur die Kapitänsbinde überreicht bekommt, so außergewöhnlich war der Moment in Wolfsburg. Dazu muss man nur ein Dreivierteljahr zurückspringen, als sich Deutschland in Aufruhr befand. Gündogan und Özil hatten vor der WM in Russland gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in die Fotokamera gelächelt. Es folgte eine laute Diskussion über Integration. Nicht wenige pfiffen die beiden türkischstämmigen Profis aus. Özil verabschiedete sich nach dem WM-Aus mit einem großen Knall samt Rassismusvorwürfen vom DFB.

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Gündogan aber wählte einen anderen Weg, erklärte sich schon vor und auch nach dem Turnier. „Wir wollten weder jemanden damit unterstützen noch irgendjemandem damit schaden“, sagte Gündogan in einer Dokumentation des WDR über die Fotos. Jetzt, nachdem ihn viele schon aus der Mannschaft jagen wollten, war er in Wolfsburg ihr höchster Repräsentant. Ein Gelsenkirchener mit türkischen Wurzeln kann also doch noch glücklich werden beim DFB.

Den Namen Erdogan wollte im Stadion aber niemand mehr in den Mund nehmen. Es wurde lieber vom Vorfall oder von der Geschichte gesprochen, die laut Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff nun abgehakt sei. „Das macht mich stolz“, sagte er. „Es gab keine Reaktionen vom Publikum in der zweiten Hälfte, daran sieht man, dass es jetzt auch gut ist“, ergänzte Bierhoff.

Gündogan will Verantwortung übernehmen

„Ich habe während der ganzen schwierigen Monate immer versucht, mich weiter in die Mannschaft einzubringen“, erklärte Gündogan. Ihm sei es wichtig gewesen, sich charakterlich einwandfrei zu verhalten. So scheint er sich nun wieder zu einem angesehenen Teil der DFB-Elf zu entwickeln. Sportlich hilft der Stratege in jedem Fall. In der englischen Premier League gibt er bei Manchester City seit seinem Wechsel 2016 von Borussia Dortmund den umsichtigen Organisator auf europäischem Topniveau, der es versteht, den Takt eines Spiels vorzugeben. Gegen Serbien überzeugte Gündogan zumindest in der zweiten Hälfte, beflügelt von der Kapitänsbinde. „Ich wollte mehr Verantwortung übernehmen. Denn ich will jetzt auch vorangehen.“

Insgesamt knarzte es aber noch in den Abläufen. Viele Fans pfiffen sogar beim Halbzeitpfiff, was die Mannschaft irritierte. Doch ihr fehlte es sichtlich an Struktur. Löws Elf wirkte phasenweise wie die Rasselbande, die sie ja auch ist. Mutig. Wild. Aber auch ungestüm und leichtsinnig. „Natürlich fehlt es den jungen Spielern noch am Selbstverständnis und auch am Selbstbewusstsein“, meinte Gündogan. Das wurde erst in der zweiten Halbzeit besser. Weil der erfahrene Marco Reus (29) nach seiner Einwechslung belebend wirkte, daher auch den Ausgleichstreffer (69.) von Leon Goretzka vorbereitete.

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Dieser Esprit wird auch am Sonntag in Amsterdam (20.45 Uhr/RTL) im ersten EM-Qualifikationsspiel gegen die Niederlande benötigt. Dann wird wieder Manuel Neuer als Kapitän im Tor stehen. Gündogan wurde auch nicht zum offiziellen Vize-Kapitän berufen. Toni Kroos, der noch geschont wurde, hatte die Binde ebenfalls schon um. Genauso wie Joshua Kimmich. Vielleicht bleibt der Abend als 45-Minuten-Kapitän daher ein einmaliger, für Gündogans weitere DFB-Karriere hat er trotzdem eine enorme Bedeutung. "Das ist eine kuriose Wende nach dem, was so alles passiert ist“, sagte er.

Dann machte auch er sich auf, um es sich im Mannschaftsbus bequem zu machen.